Vivir en Artà - Mallorca 

   

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Literatur

   *** Figaros Leseecke *** Figaros Leseecke ***

              

 Begegnungen mit der katalanischen Literatur

Die Literatur hat es Figaro schon immer angetan. Ihrer Faszination hat er sich ein Leben lang überlassen. Erst wurde sie bestimmend für die Wahl seiner Studienfächer, in der Folge auch für seinen Beruf. Hatte er doch wegen Camus und Sartre einst das Englische aufgegeben, wegen Diderot und Voltaire die Sprachwissenschaft. Heute, nach Jahrzehnten des Umgangs mit Literatur von Berufs wegen, weiß er, dass es keinen sichereren Zugang zu Land und Leuten, zur Kultur eines Landes gibt. Wo auch könnte Sprache freier, intimer sein als im imaginären Raum der Literatur? Im Worthülsenhandel der Politiker, Ökonomen oder Experten etwa oder in der Alltagsrede – so gestalt- und willenlos wie sie dort daherkommt? Erst in der Literatur findet auch das Alltägliche, Flüchtige und Verborgene Anschauung und Dauer. Zumindest für den, der sich Zeit nehmen kann. Für den wird Literatur geradezu zum Wundermittel der Entschleunigung in der Hektik unseres Lebens. Für Figaro war "das gute Buch" daher schon immer ein Partner und Freund besonderer Art: stets zur Hand, wenn man ihn wirklich braucht.

Und gegenwärtig scheint es ihm wieder so weit. Die Literatur soll Figaro einmal mehr helfen, einen Ausgang aus dem Labyrinth seines Alltags auf der Insel zu finden, in die ihn der Sprachenstreit tiefer, als er zugeben mag, gestürzt hat. Wie sehr hatte sich der Nordländer über sein neues Leben in Artà gefreut! Soll er nun als Freund des Spanischen sprachlos werden, sich gar als Paria für die Kultur der Insel empfinden, ungleich gefährlicher als all die, die als Zugereiste ungerührt ihre Muttersprache beibehalten? Oder doch für den Hausgebrauch – wenn auch nicht im Vorbeigehen – katalanisch lernen, wo ihm doch auf Spanisch leicht und lustvoll über die Lippen kommt, was auf Katalanisch auf lange Zeit hin nur als mühseliges Stottern vernehmbar wäre? Lässt sich ein freier Mensch ohne Not auf einen solchen Tausch ein? Schwerlich!

In einem solch existentiellen Dilemma setzt Figaro auf die Literatur, vertraut er auf ihre Kraft zum Königsweg. Warum sollten katalanischsprachige Autorinnen und Autoren nicht schaffen, was alle Praktiken der Diskriminierung nie vermöchten: die Liebe zur Sprache über Werke wecken, auch wenn er diese – faute de mieux – zunächst nur in Übersetzungen auf sich wirken lassen kann. Weiß er doch aus Erfahrung, dass die Erzählungen und Romane der Janer Manila oder Mercè Rodoreda, der Antònia Oliver oder Josep Pla auf Dauer verlässlichere Botschafter sind als alle Parteitagsbeschlüsse und Verwaltungsrichtlinien der Welt. Und wenn es denn am Ende – der fortgeschrittenen Jahre wegen – zu einem fließenden Katalanisch nicht mehr reicht, so bleibt doch die Entdeckung eines zauberhaften Gartens europäischer Literatur, an dem er beinahe achtlos vorbeigegangen wäre.

Figaro jedenfalls hat seine Wahl getroffen. Freudig wird er sich auf diese neuerliche Entdeckungsreise begeben, sich auf seine ganz persönlichen Begegnungen mit der katalanischen Literatur einlassen. Wer mag, kann ihm hier dabei über die Schulter schauen ...

Maria Barbal

Maria Barbal Wie ein Stein im Geröll
Sergi Pàmies Der große Roman über Barcelona
Jaume Cabré Die Stimmen des Flusses
Montserrat Roig Zeit der Kirschen
Ramón Llull Llibre d'Amic i Amat
Anthologie Und laß als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer
Carme Riera Der englische Sommer
Emili Rosales Tiepolo und die Unsichtbare Stadt
Baltasar Porcel Das Mittelmeer
Víctor Català Solitud
Maria Antònia Oliver Mallorca Mord inbegriffen
Antoni Serra Die Allee im Dunkeln

Jaume Cabré

Senyoria
Gabriel Janer Manila Die Nebeldame
Albert Sánchez Piñol Im Rausch der Stille

Mercè Rodoreda

Auf der Plaça del Diamant

Quim Monzó Tausend Trottel
Llorenç Villalonga Das Puppenkabinett des Senyor Bearn
Carme Riera Ins fernste Blau
Ildefonso Falcones Die Kathedrale des Meeres
Antònia Vicens Verdorrte Erde
Guillem Frontera Ein überreifes Herz
Rosa Planas Die Stadt der wehrlosen Spione
Pau Faner Auf Wiedersehen im Himmel
Eduardo Mendoza Die Stadt der Wunder
Maria Barbal Càmfora
Josep Pla Enge Straße
Salvador Espriu Die Stierhaut
Joan Margarit Joana und andere Gedichte
 
   WieWie ein Stein im Geröllim

     - Wie ein Stein im Geröll -

 

     Maria Barbal

 

    Roman aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum

  mit einem Nachwort von Joan Tous

 

  Berlin: Transit 2008 (Diana 35246) 190 S.

  

In einem Gelände, dem die Flut der Bücher unablässig ein neues Profil zu geben scheint, ist die Literaturkritik naturgemäß immer ein wichtiger Wegweiser. Der Anspruch auf das eigene Urteil  jedenfalls entpuppt sich da nur allzu leicht als Mangel an Belesenheit.

Figaro, Novize im Umgang mit katalanischer Literatur, konnte diese Erfahrung erst jüngst wieder machen. Wie hatte er sich gefreut, Maria Barbals Erfolgsroman Pedra de tartera (1985) endlich als Taschenbuch preiswert auch auf Deutsch – Wie ein Stein im Geröll – erwerben zu können. Denn Romane wie Auf der Plaça del Diamant von Mercè Rodoreda oder von Llorenç Villalonga Das Puppenkabinett des Senyor Bearn hatten ihn auf die Spur dieser Erfolgsautorin gebracht, die 1949 in einem Dorf in den Pyrenäen geboren wurde und aus Überzeugung von allem Anfang an katalanisch geschrieben hat. Dass er indes mit seiner „Entdeckung“ nicht allein stand, machte ihm gnadenlos ein Aufkleber mitten auf dem Coverfoto bewusst, der, einem Trichinenstempel im Schlachthof gleich, seine Ware als unbedenklich, wo nicht gar als bekömmlich auswies: „Empfohlen von Elke Heidenreich in Lesen!“ Was für eine Botschaft!

Auch auf Figaro verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Länger als es sonst seine Art ist, hat er sich zunächst einmal über die vielen Empfehlungen gebeugt, ein wenig gar im Internet recherchiert. Eine wahre Jubelarie, und so unisono! Sollten etwa auch Literaturkritiker voneinander ... wissen? Figaro verwarf diesen frivolen Gedanken rasch wieder. Dennoch hing er noch eine Weile dem Tenor der Urteile nach ... Das Bäuerliche und Einfache, eine Haltung des Klaglosen-Auf-Sich-Nehmens wurde da hervorgehoben, ein entbehrungsreiches Leben, das mit einem Mal so viel authentischer schien als die künstlichen Glamourwelten des angeblichen Fortschritts im Norden. Geradeso als präsentiere sich die vergessene Welt Kataloniens mit dieser leisen Stimme als das Andere einer kränkelnden, an sich selbst zweifelnden Moderne.

Figaro beschlich angesichts dieser Welle von Begeisterung das dumpfe Gefühl eines Déjà-vu. Hatten nicht einst die deutschen Romantiker das ferne Spanien als „schöne Wüste“ entdeckt, als Traumland ihrer fortschrittsfeindlichen Phantasie gefeiert und lockt nicht die Tourismusbranche bis heute mit dem Klischee eines „Spain is different“? ... Und nun also Katalonien? Ausgerechnet jenes eigentlich immer schon Europa zugewandte Katalonien als das Andere, das uns Nordländern den Spiegel des wirklich Wichtigen vorhält?

Müßige Zweifel allemal, die Figaro angesichts des marktschreierischen Gewerbes der Kritik da bewegten. Waren sie doch wie weggeblasen, als er den Roman endlich aufschlug und zu lesen begann:

"Man sah gleich, dass wir bei uns daheim viele waren. Und eine schien man entbehren zu können."

Figaro hielt begeistert inne. Was für ein Anfang! Umwerfend! Andere Romananfänge kamen ihm in den Sinn: „Die heldenhafte Stadt hielt Mittagsruhe. ...“ in Die Präsidentin von Clarín oder jenes „Viele Jahre später..." der Hundert Jahre Einsamkeit von García Márquez. Auch diesmal war der Grundton des gesamten Buches mit dem ersten Satz bereits unverwechselbar angeschlagen – nüchtern, unsentimental, realistisch hier – , das Grundmuster dieses Lebensweges implizit vorgezeichnet, erkennbar bereits als ach so unspektakulärer „Spannungsbogen“ eines namenlosen Menschen, mit dem die Zeitläufe umgehen wie die Natur mit einem „Stein im Geröll“.

Aber doch zugleich auch wieder konkret genug, den Beginn dieses Lebensweges in jenem Katalonien am Vorabend des Bürgerkrieges zu situieren. Man braucht der Ich-Erzählerin nur zuzuhören: 

"Ich war die fünfte von sechs Geschwistern, und auf die Welt bin ich gekommen, wie die Mutter sagte, weil Gott es so gewollt hat, und was Er einem gibt, muss man annehmen." 

Wir wissen gleich, diese Welt – kinderreich, katholisch, karg – ist nicht die unsere. Oder zumindest ist sie es nicht mehr. Und doch glauben wir, sie zu kennen, bereit, uns gar ein Stück weit mit ihr zu identifizieren. 

"Maria, das war die Älteste, kümmerte sich schon mehr um den Haushalt als die Mutter selbst, Josef, der Erstgeborene, würde einmal alles erben, und Joan ging aufs Priesterseminar. Von uns drei anderen, den Kleinen, habe ich oftmals sagen hören, wir würden mehr Arbeit als Freude machen. Rosige Zeiten waren das nicht." 

Großartig, wie diese gelassene Dramatik in der aufzählenden Vorstellung der Familie von einem Gemeinplatz abgeschlossen wird, der jedes Pathos im Keim erstickt. Auf Figaro wirkt diese sardonische Diskretion wie eine unabweisliche Einladung, auf das fremde Leid genau hinzuschauen, sich seiner eigenen Kindheit zu erinnern, sich gar zu solidarisieren mit den Schicksalen einer Welt, die vergangen, die untergegangen ist – auch in Katalonien. 

Trauer müssen wir darum nicht empfinden. Wohl aber Dankbarkeit für dieses überzeugende literarische Zeugnis einer Welt, die hoffentlich so bald nicht mehr die unsere ist – nirgendwo auf der Welt. Zumindest wenn wir uns die Zeit nehmen, der Protagonistin zuzuhören, jener bescheiden unbeugsamen Conxa, die das Leben gelehrt hat, zu leiden, ohne zu klagen und dabei das Leben dennoch dankbar anzunehmen. 

Figaro jedenfalls fühlt sich eigenartig gestärkt, als er Stunden später das Buch wieder aus der Hand legt.  

 

Der große Roman über Barcelona

   - Der große Roman über Barcelona -

 

   Sergi Pàmies

 

Erzählungen aus dem Katalanischen von Elisabeth Brilke

 

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 (st 3525) 108 S.

Den 2003 als Suhrkamp Taschenbuch auf Deutsch neu verlegten Titel hatte Figaro im Internet bestellt und nicht, wie es seine Gewohnheit ist, ihn zuvor in einer Buchhandlung erst einmal angelesen, so wie ein Weinkenner den ihm angepriesenen Tropfen vor dem Kauf genüsslich verkostet. Denn der Name des preisgekrönten Erfolgsautors war ihm wegen dessen Absage zur Teilnahme an der Buchmesse in Frankfurt in Erinnerung geblieben, die 2007 die Literatur Kataloniens zum Schwerpunktthema gekürt hatte. „Illegal“ war Sergi Pàmies damals die einseitige Fixierung auf das Katalanische erschienen, diskriminierend auch für die spanisch schreibenden Schriftsteller Kataloniens. In den Augen Figaros eine löbliche Geste gegen die politische Instrumentalisierung der Literatur. Gibt es doch angepasste Intellektuelle in unserer Expertenkultur satt und genug!

Als er das 1997 im Original erschienene Buch tags darauf in der Hand hielt, erkannte er unschwer das ironische Spiel mit der Titelerwartung. Denn Der große Roman über Barcelona war weder groß noch ein Roman, und der Schauplatz Barcelona war ohne Lokalkolorit kaum erkennbar, eher eine Metropole, die wir in der globalisierten Gegenwart überall antreffen können, wie auch die Handlungsmuster dieser Erzählungen mit ihren namenlosen Zeitgenossen.

Ein witziges und doch gnadenlos ernüchterndes Portrait unserer Tage entsteht so, ein offenes Portrait zudem, das sich mit seinen zahllosen Fragmenten immer neu fortschreibt. Und vorgestellt wird das alles mit der Virtuosität eines Meisters der grotesken Komik, gleichsam eines Buster Keaton der Literatur mit Tiefgang.

Eine Anekdote nur zum Beleg. Sie ist der längsten der 15 Erzählungen des Bandes entnommen und ihr Titel La gran novel·la de Barcelona hat auch der ganzen Sammlung den Namen gegeben. Auf den ersten Blick könnte sich die Geschichte, die sie skizziert, an vielen Orten der Welt zugetragen haben. Doch lesen Sie selbst!

„Die junge Frau lernte ihren Mann in der Nähe eines Kastells kennen, das auf der Spitze eines Berges steht, und zwar genau an der Stelle, wo er später erschossen wurde.“

Mit einer einfachen Vorausdeutung umschließt dieser Eröffnungssatz Anfang und Ende des Lebensglücks unserer namenlosen Heldin, nicht jedoch das Ende ihres Leidens.

„Nachdem Jahre danach ein langer Prozess bürokratischer Erniedrigung überstanden war, wurde ihr ein Grab (die echten Gebeine lagen im Massengrab) in einer Ecke des Friedhofs zuerkannt, nur wenige Meter vom Tatort entfernt.“

Nach der widerrechtlichen Erschießung folgt also der zermürbende, lebenslange Kampf um Rehabilitierung des Ermordeten, ein Kampf, der bis heute ohne befriedigendes Ergebnis bleiben sollte.

„Die junge Frau, die inzwischen eine Greisin mit zwei Sparbüchern und Krampfadern ist, steigt ab und zu hinauf, um sozusagen die Landschaft zu betrachten. Die drei Schornsteine im Vordergrund. Dahinter nur Nebel. Alterskurzsichtigkeit stellte der Arzt fest.“

So einfach kann das Unerklärliche sein: kreatürlicher Verfall als Erklärung ihrer Leiden. Doch so viel weiße Salbe gegen Verbrechen und kollektives Versagen reizt sie denn doch zum Widerspruch, diskret unterstützt von der Erzählerstimme.

„Nicht nur das Alter, ich habe genug, widersprach sie. Genug davon, die Haustür mit der von nebenan zu verwechseln, die Fünfpesetenstücke mit den Fünfundzwanzigern. Genug davon, sich die Fotografie dicht vor die Nase halten zu müssen, um den Mann zu erkennen, der sie vor langer Zeit ganz in der Nähe des Ortes verführte, an dem jetzt der Sportpalast steht, der von einem Japaner gestaltet wurde.“

Diese ohnmächtige Geste des Protestes, die der Erzähler über den Moment hinaus verlängert, beschließt unsere Anekdote. Eine Lebensgeschichte im Zeitraffer und im Kern – Gott sei’s geklagt – eine Allerweltsgeschichte. Und doch auch unverwechselbar angesiedelt im Barcelona der zurückliegenden sieben Jahrzehnte. Ein Zeitraum also erlebter Zeitgeschichte für den Katalanen und Spanier, der sich auskennt und der bereit ist, sich zu erinnern: an die Erschießungskommandos am Kastell auf dem Montjuic zur Zeit des Bürgerkrieges, an den Staatsterror der Franco-Diktatur, der politisch Andersdenkende bis weit in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgen, ausrotten und in Massengräbern verscharren ließ, Gräueltaten, die zu verdrängen das demokratische Spanien lange fest entschlossen schien, berauscht vom Wirtschaftswunder und geblendet vom Glanz internationaler Anerkennung wie zur Zeit der Olympischen Spiele. Spanien – Katalonien zumal – war zurück im Kreis der führenden Nationen in der Welt! Wer mochte da schon der ungezählten Opfer gedenken? Politik, Presse und Massenmedien jedenfalls nicht! Bevor der Skandal der Verdrängung dort in diesen Tagen endlich zum Thema wird, hatten Literaten lange zuvor in einem breiten Strom literarischer Reflexion von den „Identitätszeichen“ (!966)  eines Juan Goytisolo bis zum „Langen Marsch“ (1996) eines Rafael Chirbes wider den Stachel dieses politischen Konsenses gelöckt. Kein schlechter Kontext zur Bewertung unserer Anekdote in den Augen Figaros. Auch wenn die Stimme von Sergi Pàmies so unverwechselbar anders klingt als die seiner Vorgänger.

In der Tat, wie grandios lakonisch der Ton, frei von Pathos und Sentimentalität! Alles hier ist Diskrepanz: das raffende Erzählen steht zum Unfassbaren des Erzählten – Erschießungen, Massengräber, Verdrängen – in ebenso krassem Widerspruch wie die Reduktion des langen seelischen Leidens auf wenige körperliche Leiden – Krampfadern und Alterskurzsichtigkeit. Es ist die Kunst des Absurden. Bringt doch gerade eine solche Karikatur des namenlosen individuellen Leidens allererst vor den Blick, was im Horizont des rasanten Wandels einer Metropole nur allzu leicht in Vergessenheit gerät. Macht der grotesken Komik halt, die erheitert, bevor sie nachdenklich stimmt.

Figaro jedenfalls hat diese Anekdote auf die weiteren Erzählbände dieses Nonkonformisten neugierig gemacht. Signalisieren doch Titel wie Du solltest dich in Grund und Boden schämen (2001) oder Wie man in eine Zitrone beißt, ohne das Gesicht zu verziehen (2008) jenen grotesken Zuschnitt unserer Gegenwart, den er im Großen Roman über Barcelona schätzen gelernt hat.

  Die Stimmen des Flusses

   - Die Stimmen des Flusses -

 

     Jaume Cabré 

 

   Roman aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt

      Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008

667 Seiten und das einmal mehr über eine Geschichte aus den Tagen des spanischen Bürgerkriegs und der Diktatur? Figaro hob unwillkürlich die Augenbrauen – ars longa, vita brevis Doch die anfänglichen Zweifel waren schnell verflogen. Nun, nach wenigen Monaten, hat Figaro den zeitgeschichtlichen Roman dieses vielfach ausgezeichneten Schriftstellers, Journalisten und Drehbuchautors aus freien Stücken bereits ein zweites Mal gelesen. Und er fühlt sich reich belohnt.

Es ist in der Tat eine atemberaubende Geschichte, die gleichwohl zum Nachdenken einlädt – über die vielfältigen Verdrängungen und Verstellungen der Ermordung eines Dorfschullehrers in den ersten Jahren der franquistischen Diktatur in einem abgelegenen Bergdorf in den Pyrenäen Kataloniens. Denn so spannend sich die Suche danach auch gestaltet, was in jener Mordnacht des 17. Oktober 1944 in der Dorfkirche wirklich geschehen ist, so abenteuerlich legen sich gegenläufige Instrumentalisierungen dieses Todes wie ein undurchdringlicher Schleier über jene menschenverachtende Tat.

War der Tod von Oriol Fontelles Ausdruck der mutigen Tat eines Helden des Vaterlandes, wie sie die Blauhemden der Falange sehen wollen, oder im Gegenteil Ausdruck eines selbstlosen Aktes des Widerstandes gegen Franco und dessen Rückeroberung Kataloniens, jenes berüchtigten „Ha llegado España", wie die „Roten", die Kämpfer des Maquis und der Internationale gegen den Faschismus in Europa, im Untergrund verbreiten lassen? "Weder – noch", verkündet die Kirche, die stattdessen den Namenlosen nahezu sechs Jahrzehnte später als wundertätigen Märtyrer ehren lässt – auf Betreiben von Elisenda Vilabrù, der heimlichen Geliebten des Toten und der ungekrönten Herrscherin der Region. Vielleicht liegt die Wahrheit aber auch auf einer eher privat alltäglichen Ebene, ist das Geschehen Ausdruck einer den politischen Wirren geschuldeten Verzweiflungstat eines Mitläufers wider Willen, der sich mit seiner Wandlung vom Faschisten zum Widerstandskämpfer von seiner eigenen Feigheit zu distanzieren sucht, um posthum in den Augen seiner Familie bestehen zu können. Diese Sicht wird zumindest durch den Zufallsfund seines langen Abschiedsbriefes an seine noch ungeborene Tochter nahe gelegt, den eine Gymnasiallehrerin und Journalistin, die an einem Projekt über den Wandel des Schulbuches von 1940 bis 2002 arbeitet, in einer hinter der Wandtafel verborgenen Zigarrenkiste just in dem Augenblick findet, als die alte Dorfschule in Torena abgerissen wird und die Kurie in Rom ihre Opfer des Spanischen Bürgerkrieges als Märtyrer zu ehren beginnt.

Angesiedelt ist das lange tief verdrängte Geschehen in einem Schreckensdorf, wo hinter der beschaulichen Idylle der unversöhnliche Hass der Generationen an den Fassaden der Häuser klebt und von wo eine unwiderstehliche, aber eiskalte Kazikin – eine „Doña Perfecta" des 20. Jahrhunderts – unerbittlich und über den Wechsel der politischen Systeme hinweg alle Fäden der Macht im Lande zieht. Ein fiktiver, gleichwohl emblematischer Ort, denn Torena ist – in Katalonien, ist in Spanien – überall.

Unterstützt wird dieser Eindruck, weil das Geschehen gleichsam als mise-en-abîme inszeniert wird, nicht linear, sondern durch unablässige Wiederaufnahmen, durch rasche filmische Überblendungen der Zeitebenen, Schauplätze und Perspektiven zirkular erzählt. So entsteht eine temporeiche, gleichsam kriminalistische Suche voller witzig grotesker wie ernster und lyrischer Momente. Ein barockes Universum, in dem nichts ist, was es scheint, am wenigsten die Liebe und der Tod. Ein tragikomisches Epos wider das Vergessen, ohne die übliche Selbstgefälligkeit der Ankläger, die Verstocktheit der Unbelehrbaren oder den naiven Idealismus der Gutmenschen, zu sehr scheinen Heuchelei und Lüge hier als Quellgrund gesellschaftlichen Versagens allgegenwärtig – damals wie heute. Eine Satire mithin ohne den faden Triumphalismus eines „Nie wieder … !"

Wer hier mit Würde aussteigt, tut es stoisch und still wie Rosa, die schwangere Frau des Dorfschullehrers, die den feigen Opportunismus ihres Mannes nicht mehr erträgt und lieber einer ungewissen Zukunft entgegengeht.

„Rosa verließ Torena am Tag vor Weihnachten, dem Tag, an dem Ventureta [die von „Henker von Torena" erschossene vierzehnjährige Geißel] zu Grabe getragen wurde, als alle bei der Arbeit waren und Oriol in Sort an einer Konferenz aller Lehrer der umliegenden Täler teilnahm, einberufen vom Abgeordneten der Falange Española, der sie überreden wollte, der Falange beizutreten, und zwar geschlossen, Kameraden. Rosa ging wie ein Flüchtling, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Sie wusste, dass sie außer ihrem Korb und ihrem vollen Koffer alle Illusionen mitnahm, all ihre Vorstellungen davon, wie schön es hätte sein können. Sie tat es, weil sie eine starke Frau war und nicht wollte, dass ihr Kind neben einem Faschisten aufwuchs. All ihre Hoffnungen trug sie in ihrem Bauch."

Ein starker Protest, den die Gleichgültigkeit der Zeitgenossen gleichwohl in einen ohnmächtigen Verlierergestus verwandelt. Dass er dennoch weit reichende Folgen hat, liegt an der unterschwelligen tragischen Ironie dieser Erzählung selbst: Denn das Kind in ihrem Bauch wird nach der heimlichen Zwangsadoption durch Elisenda als skrupelloser Geschäftsmann sowohl die Träume seiner leiblichen Eltern auf Rehabilitation als auch die Machtträume seiner Adoptivmutter durchkreuzen. Und so entlässt uns der Roman mit einem melancholischen Quo vadis, mundus? Oder in den letzten Worten des alten Steinmetzen aus Torena: „Man weiß nie, wo das Unglück endet." Zumindest solange die Menschen ihr Leben unter Lüge und Heuchelei begraben.

Kein Zweifel: gerade die wiederholte Lektüre dieses 2004 unter dem Titel Veus del Pamano veröffentlichten Romans, an dem der 1947 in Barcelona geborene Autor nach eigenen Angaben sieben Jahre gearbeitet hat, lohnt. Und wäre Figaro des Katalanischen mächtiger, er würde ohne zu zögern sofort weitere Werke wie L’ombra de l’eunuc (1996) oder Viatge d’hivern (2000) auf seine Liste setzen, ohne erst noch lange auf die löblichen Vermittlerdienste einer Übersetzerin wie Kirsten Brandt zu warten.

Montserrat Roig

  - Zeit der Kirschen -

 

   Montserrat Roig

 

   Roman aus dem Katalanischen von Volker Glab

 

     Moos & Baden-Baden: Elster 1991, 331 S.

Zugegeben: dieses Buch hat Figaro überhaupt nur in die Hand genommen, weil sein Titel El temps de les cireres ihm unwillkürlich die Erinnerung an den Chansonnier Yves Montand zurückbrachte, für den er als Student in Frankreich einst geschwärmt hatte. Dessen sinnlich melancholischer Vortrag jenes Liedes Le temps des cérises von Jean Baptiste Clément, eines Dichters aus den Tagen der Pariser Kommune, ließ ihn damals wohlig vage vom Anbruch einer glücklichen, angstfreien Zeit träumen. Dass dieses Lied aber zur gleichen Zeit für die Studenten in Barcelona, die in Protesten gegen die franquistische Repression ihre Karriere und ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, zur konkreten Utopie werden konnte, hat ihm erst dieser zeitgeschichtliche Roman aus dem Jahre 1977 von Montserrat Roig offenbart.  

Von dieser in den siebziger und achtziger Jahren in Katalonien und landesweit aus Presse und Fernsehen bis zu ihrem frühen Tode 1991 sehr bekannten Journalistin und Schriftstellerin hatte er nie zuvor auch nur eine Zeile gelesen, weder ihre mutigen Reportagen und Interviews – Els catalans als camps nazis (1977) etwa – noch ihre zeitkritischen Romane. Und die Veröffentlichung der Zeit der Kirschen 1991 in einem kleinen Verlag für Frauenliteratur war für Figaro lange Zeit auch nicht gerade eine ausgesprochene Empfehlung. Stolz ist er auf so viel Ignoranz freilich nicht.

In gewisser Weise eröffnet die 1946 geborene Montserrat Roig den Reigen jenes neuen Typs von Autorinnen, die nicht zuletzt publizistisch sehr erfolgreich sind wie Esther Tusquets, Carme Riera, Maruja Torres… Mit ihnen rückt vor allem das Thema der in der Liebe frustrierten Frau mit allen seinen Spielarten in den Mittelpunkt. Die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau, die ja bereits seit den Tagen des Realismus angesagt ist und zuletzt in den Romanen von Maria Barbal und Mercè Rodoreda ihren sozial denunziatorischen Niederschlag gefunden hatte, erhält hier nun mit der prononzierten Opferrolle gegenüber dem Mann gleichsam ihren frühen feministischen Einschlag.

Bei Montserrat Roig findet diese allgemeine Klage auch einen konkreten Adressaten: die  katholische Erziehung, in Sonderheit die Klosterschule. In den traumatischen Erinnerungen ihrer Protagonistinnen erscheint sie nicht nur als Quellgrund lebensfeindlicher Verklemmungen, sondern auch als Hort einer perfiden binnenspanischen Kolonialisierung: Mit dem Schüren einer allgegenwärtigen Angst vor der Sünde, verbunden mit Drohungen wie “Sprich christliches Spanisch und nicht dieses teuflische Katalanisch, du böses, böses Mädchen“, wurden diese Töchter der Mittelschicht geradezu systematisch ihres Körpers und ihrer Kultur entfremdet.

Aber auch ihre Väter verloren hier mit dem Einmarsch der Franquisten ihre Identität. Wer wie Joan Miralpeix, der in seiner Jugend mit der Linken sympathisiert hatte, drei Jahre das  Konzentrationslager von Betanzos überlebt, spricht fortan die Sprache der Sieger oder wird gemütskrank.

"Calia deixar ben endarrera els aires que els havien dut tantes desgràcies. Calia regirar el pensament, calia commençar a parlar d’una altra manera, vestir-se com ells volien, tancar-se a casa, dormir, fer-hi una llarga i compacta dormida, calia no sortir al carrer, perquè el carrer era d’ells – l’única revenja possible: fer diners […]."

(Es kam darauf an, das Klima weit hinter sich zu lassen, das ihnen soviel Unglück gebracht hatte. Es kam darauf an, das Denken umzukrempeln, man musste auf eine andere Art und Weise reden, sich kleiden, wie sie es wollten, sich zu Hause einschließen, schlafen, in einen langen, festen Schlaf versinken, lieber nicht auf die Straße gehen, denn die Straße gehörte ihnen – die einzige mögliche Rache: Geld machen […].)

Schweigen, um zu überleben, Geld scheffeln, um zu vergessen – für Joan Miralpeix aus Eixample, dem Viertel des wohlsituierten Bürgertums in Barcelona wird diese traurige Maxime zur tödlichen Falle. Je länger der Tod Francos auf sich warten lässt, umso mehr entgleitet dem Baulöwen seine Familie, werden aus Liebe Gleichgültigkeit, Angst und Hass.

Seine Tochter Natàlia, die Protagonistin des Romans, wird Opfer und Zeugin dieses langsamen Selbst-zerstörungsprozesses des katalanischen Bürgertums. Aus Wut über die Niederschlagung der Studentenproteste in Barcelona und aus Angst, der eigene Vater könne ihre illegale Abtreibung der Polizei zur Anzeige bringen, hatte sie 1962 das Land verlassen, das Jahr, in dem die Diktatur mit der blutigen Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks in Asturien und der Hinrichtung des Kommunistenführers Grimau dem demokratischen Europa seine Entschlossenheit zur Repression demonstierte. Als sie es 1974 wieder betritt, steht das Land noch unter dem Schock des wenige Tage zuvor unter den flammenden Protesten des Auslandes garottierten Anarchisten Puig Antich. Für Natàlia ist diese Nachricht das traurige Signal über zwölf weitere Jahre Stillstand, Korruption, Grabesruhe, zwölf Jahre, in denen hinter der Fassade wachsenden Wohlstandes der moralische Verfall ihres Landes unaufhaltsam fortgeschritten ist. Ihre eigene Familie, deren Mitglieder sie in den sechs Kapiteln des Buches nacheinander vorstellt, bieten ihr diese traurige Gewissheit: eine erschreckende, tragikomische Orientierungslosigkeit allenthalben, ein morscher Stamm, an dem die Wurzeln der eigenen Kultur gründlich verdorrt sind und dem die wabernden Mythen westlichen Konsums nicht wirklich eine neue Blüte verheißen. Kein gutes Omen für eine neue Zeit der Kirschen – auch nach dem Abgang des Diktators nicht.

Eine ernüchternde, eine bedenkenswerte Bilanz dieser feministischen Katalanistin, die ihr gleichwohl noch im Jahr des Erscheinens den angesehenen Sant Jordi Preis eingetragen hat. Angekündigt hatte sie sich bereits 1972 in dem Roman Ramona, adéu. Sie setzt sich nach El temps de les cireres 1980 mit L’hora violeta fort. Alle drei bilden eine lockere Trilogie, eine Art Familiensaga in Form eines Nebeneinanders von Lebensläufen, ein lebendiges Mosaik der katalanischen Mittelschicht. Gewiss, die Miralpeix mögen in der Phantasie ihrer Leser nicht die poetische Kraft der Buendías oder Buddenbrocks entfalten, aber eine unterhaltsame Lehrstunde zum besseren Verständnis des heutigen Katalonien sind sie allemal. Und noch sind die Übersetzungen ihrer Romane preiswert in Restposten im Internet zu beziehen.

Llibre d'Amic i Amat

 - Llibre d'Amic i Amat -

 

Ramón Llull

 

Pollença: El Gall Editor 2004 (Clàssics del Gall1) 161 S.

 

Nach so viel Vergangenheitsbewältigung auf Katalanischwill sagen in den unterschiedlichen Modi der Ironie in der zeitgenössischen Erzählliteratur stand Figaro der Sinn nach mehr Eigentlichkeit der Rede. Zugetragen hat sie ihm der Zufall eines Ausflugs nach Randa. Dort in der Einsamkeit jener Berglandschaft hatte einst Ramón Llull Jahre seines Lebens verbracht, jener Gelehrte, dessen Ruf als Theologe, Philosoph und Dichter im Mittelalter ganz Europa überstrahlte und in dem die kulturellen und politischen Eliten des katalanischen Sprachraums gerade heutzutage wieder eine identitätsstiftende Lichtgestalt erblicken, vergleichbar einem Dante in Italien.

In der Buchauslage des kleinen Souvenirladens im dortigen Ramón Llull-Museum war ihm jenes schmucklose Büchlein aus der Reihe Clàssics del Gall in die Hände gefallen, dessen Titel – Llibre d’Amic i Amat – gleichwohl nichts Geringeres als eine Perle europäischer Lyrik verspricht.

In der Tat steht dieses "Buch vom Freund und dem Geliebten“ aus dem 13. Jahrhundert als früher Gipfelpunkt europäischer Mystik in unserem kulturellen Gedächtnis, ferner Wegbereiter auch der glänzenden asketischen Literatur einer Teresa von Ávila oder eines Fray Luis de León im 16. Jahrhundert. Es ist eine Sammlung einfühlsamer Aphorismen – 366 an der Zahl – , angesiedelt zwischen dem Hohen Lied und der Spruchdichtung der mohammedanischen Sufis. Diese Strophen besingen das Sehnen des Menschen nach Vereinigung mit seinem Gott, zeugen vom schmerzlich-beglückenden Doppelcharakter dieses Verlangens, von jener brennenden Sehnsucht mithin, die das Leben gleichermaßen ernährt wie verzehrt.  

An jenem Frühlingstag im Winter klang besonders der nachstehende Aphorismus jener offenen Zwiesprache zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf noch lange in Figaro nach:

 

                             

    Der Vogel sang auf einem Zweig

mit Blättern und Blüten,

und der Wind wiegte die Blätter

und brachte den Duft der Blüten.

Der Freund fragte den Vogel,

was die Bewegung der Blätter

und der Duft der Blüten bedeuten.

Er antwortete: "Die Blätter bedeuten

in ihren Bewegungen Gehorsam

und der Duft Leid und Ungemach."

                                                                                                    - Gedicht 58 -           

 

Als Figaro Stunden später immer noch gedankenverloren den Berg wieder hinabfuhr, fielen ihm die vorlauten Stimmen jener ins Rampenlicht drängender Zeitgenossen ein, die sich im unseligen Sprachenstreit auf der Insel mit der wohlfeilen Ansicht zu Wort melden, das Katalanische sei doch nur ein dialektaler Ableger der Kultursprache Spanisch. „Da sei doch der Mallorquiner Ramón Llull vor!“  Doch anstatt sich ungehalten über so viel Ignoranz zu ärgern, zog Figaro es vor, still vor sich hin zu lächeln ...

  

 U

  Und laß als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer

 

und vierzehn weitere Erzählungen aus dem Katalanischen

 

Ausgewählt und aus dem Katalanischen übertragen von Angelika Maas

 

       Frankfurt a. M.: Vervuert 1988, 156 S.

Ein wenig verwundert hatte er den Band in der Badetasche der Familie gefunden. Aber hier in der Bucht von Canyamel im Schatten der Tamarisken kam er ihm sehr zu pass. Der Hardcover-Einband widerstand der leichten Brise ungleich besser als die Tageszeitung. Und für einen dicken Wälzer war die Umgebung viel zu spannend. Diese Sammlung von kurzen Geschichten indes fügte sich hervorragend in den Rhythmus der kleinen Unterbrechungen am Strand, der willkommenen wie der ungebetenen gleichermaßen.

Geradezu ein ideales Ambiente für eine abwechslungsreiche, unterhaltsame Lektüre über Liebe und Meer, Einsamkeit und Tod ein bunter Bilderbogen vertrauter Erfahrungen halt, in freilich ungewöhnlichen Situationen des Lebens: ein Tier als Substitut menschlicher Nähe in der Einöde einer heruntergewirtschafteten Region (Das Huhn von Mercè Rodoreda); nordisch lange Frauenbeine im Zugabteil als rotes Tuch für mediterranes Männerblut (Die Lachsdame von Quim Monzò); das Meer als Leichentuch einer uneinlösbaren Liebe (Und lass als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer von Carme Riera) ... 

Und laß als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer ... Diese ungemein appellative Apostrophe gibt dieser Sammlung katalanischer Kurzgeschichten 15 an der Zahl  auch insgesamt ihren Titel. Sie umspannen den Zeitraum vom Ende des Bürgerkriegs bis zum Beginn der Demokratie und entstammen der Feder von 11 Erzählerinnen und Erzählern aus drei unterschiedlichen Generationen: die "Generation der Republik" ist hier mit LLorenç Villalonga (1897 - 1980) und Mercè Rodoreda (1909 - 1983), Pere Calders (1912 - 1994 ) und Salvador Espriu (1913-1985) vertreten, die "der 50er Jahre", die den Bürgerkrieg in ihrer Jugend oder als Kind  erlebten, mit Maria Aurèlia Capmany (1918 - 1991), Manuel de Pedrolo (1918 - 1990), Joan Perucho (1920 - 2003) sowie mit Miquel Àngel Riera (1930 - 1996) und Baltasar Porcel (1937 - 2009), während für die "Generation der 70er Jahre", der letzten inzwischen bereits akzeptierten Gruppe, Carme Riera (1948) und Quim Monzò (1952) stehen.

Ein erstaunlich guter Fächer über drei Generationen der katalanischen Gegenwartsliteratur. Denn viele der hier Ausgewählten, die zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Anthologie dem deutschen Leser noch unzugänglich waren, haben inzwischen auch im deutschsprachigen Raum eine breite Präsenz erworben.

Anthologien wie dieser im Vervuert Verlag erschienenen sei Dank!  Dieser 1988 aus Anlass der 1000 Jahre zuvor erstmals errungenen staatlichen Unabhängigkeit Kataloniens herausgebrachte Band war auch als Ermutigung gedacht, als Weckruf nicht zuletzt an die Nordeuropäer, die kulturelle Erneuerung Kataloniens endlich zur Kenntnis zu nehmen. Es sollte noch weitere zwei Jahrzehnte dauern, bis er Figaro unter Tamarisken am Strand von Canyamel erreichte. Aber dort hat er ihn vernommen.

Der englische Sommer

    - Der englische Sommer -

 

    Carme Riera

 

      Roman aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt

 

           Berlin: List Taschenbuch 2009 (60866) 123 S.

Bei Hugendubel am Münchener Stachus war er ihm in die Hand gefallen, auf der Rückfahrt im ICE hatte er ihn in einem Zug gelesen, den neuen Roman der 1948 in Palma geborenen, seit 1965 in Barcelona lebenden Autorin und Literaturdozentin Carme Riera. Offenbar ist die katalanischsprachige Literatur inzwischen auch in Deutschland in gut sortierten Buchläden präsent. Figaro fühlt sich mithin in seinem Anliegen, für diese in Europa oft verkannte literarische Provinz zu werben, einmal mehr bestätigt. Ist sie doch für Europas Kulturlandschaft durchaus eine Bereicherung. Der kurze, 2007 zur Buchmesse in Frankfurt zunächst in Hardcover bei Ullstein erschienene und seit 2009 auch als List Taschenbuch vorliegende Roman Der englische Sommer aus dem Jahre 2006 – L'estiu del l'anglès jedenfalls erfüllt die Erwartung an lesenswerte Unterhaltung in jeder Hinsicht: eine spannende Lektüre für wenige Stunden, virtuos erzählt, in klarer und differenzierter Sprache, voll hintergründiger Ironie.

Dabei ist der Plot denkbar einfach: Die neunundvierzigjährige Immobilienmaklerin aus Barcelona ist über Nacht wild entschlossen, ihre Karriere-, wo nicht ihre Lebenschancen während ihres Urlaubs durch einen Sprachkurs in England durchschlagend zu verbessern. Im Internet bucht sie kurzerhand das scheinbar ganz ideal auf ihre Lebenssituation zugeschnittene Angebot: Einzelunterricht in abgelegenem englischen Landhaus bei einer passionierten Lehrerin im Ruhestand. Dass aus der Idylle dann im Alltag rasch ein Albtraum wird, ist dem naiven Wunschdenken wie der Unvereinbarkeit der beiden Charaktere gleichermaßen geschuldet. Und die Situation gerät unaufhaltsam außer Kontrolle, sobald unter dem Druck der latent immer möglichen sadomasochistischen Lehrer-Schüler-Relation die Fassade des Trivial-Alltäglichen die verdrängten Minderwertigkeitskomplexe der beiden Frauen, die glauben, dass Männer bereits "ihre Vergangenheit" seien, mit Macht freigibt. Jeder Versuch dieser neuroseträchtigen Lage zu entkommen, beschleunigt nur die Katastrophe.

Figaro ist diese Logik des Absurden durchaus vertraut. Bei Ionesco – nicht nur in La Leçon (Die Unterrichtsstunde) – ist sie ihm oft begegnet. Aber anders als die Dramatiker des Absurden nutzt Carme Riera die paroxystische Dynamik der Selbstzerstörung nur vermittelt, gleichsam in der reflektierenden Rückschau. Noch auf dem Krankenlager, aber schon unter Anklage sucht die Ich-Erzählerin – gleichsam in einem Aussageprotokoll für ihren Anwalt – das Unbegreifliche in der Rückschau zu erklären. Dieser Erklärungsversuch des eigentlich Unerklärlichen – das Niederstechen einer als Bedrohung empfundenen Lehrerin im Affekt – durch ein Netz von subtilen Vorausdeutungen macht wie im Psychothriller das Anschwellen des Angstpegels in der Protagonistin nachvollziehbar. Gezielt konterkariert wird dieses Erschauern freilich durch die Distanz schaffenden Abweichungen der Erzählerin, in denen diese über ihre eigene kollektive Befindlichkeit als Katalanin – gegenüber dem vermeintlichen Kulturimperialismus der Engländer etwa, jene "Einwohner des perfiden Albion", die gegen Südländer "immer noch Animositäten" hegen – sinniert, so als suche sie, die sich ansonsten durchgängig als Opfer sieht,  unterschwellig doch nach mildernden Umständen für eine Tat, die sie als Täterin sich letztlich doch nicht zu erklären vermag – allen Schuldzuweisungen an das zur Pathologin stilisierte Opfer zum Trotz.

"Manchmal", so endet der Roman, "packt mich Reue, vor allem, wenn ich mich selber sehe, die Schere in der Hand, und mich dabei beobachte, wie ich sie der Grose in den Leib stoße, ein, zwei, drei... dreizehn Mal." Ein überraschender Schlusssatz eines als Selbstplädoyer angelegten Berichts, der in dieser tabulos naiven Direktheit der Aussage Figaro entfernt an den so genannten tremendismo eines Camilo José Cela erinnert. Mit dieser Technik konnte einst der spätere Nobelpreisträger seinen Protagonisten Pascual Duarte sich zugleich selbstbezichtigen lassen und die Gesellschaft stillschweigend mit auf die Anklagebank setzen. Hier nun öffnet die Schlusspointe über dem Spannungsbogen des linear erinnerten Ablaufs der Ereignisse den Blick auf die Abgründe unserer gesellschaftlich konditionierten Natur.

In Figaros Augen gewiss eine meisterhafte Erzählerin. Die Virtuosität ist geradezu ihr Markenzeichen: erkennbar bereits in ihrer ersten 1988 auf Deutsch erschienenen Erzählung Und lass als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer (Te deix, amor, la mar com a penyura 1975), wenige Seiten nur, die der gleichnamigen, bei Vervuert erschienenen Anthologie katalanischer Erzähler ihren Titel verleihen und die ihren späteren Erfolg begründen, oder ausgepägter schon in der 1993 als Fischer Taschenbuch erschienenen Novelle Selbstsüchtige Liebe (Cuestión de amor propio 1988). Auffällig auch deren strukturelle Analogie mit dem hier in Rede stehenden Roman. Wie im Englischen Sommer so suchen auch dort  Ich-Erzählerinnen in Form eines Briefes nach Erklärungen ihres Scheiterns, ihrer frustrierten Erwartungen. Obsessive Monologe allemal, geschrieben gleichsam vor dem Gitter eines säkularisierten Beichtstuhls. Es sind freilich hoffnungslose Plädoyers, hat doch die jeweilige Gesellschaft ihr Anliegen immer schon verworfen: das Lebensrecht der lesbischen Liebe in Zeiten des Franquismus, die Selbstachtung der Frau in der heterosexuellen Partnerschaft in Zeiten der karrieresüchtigen Transición oder das nicht zuletzt am eigenen Geschlecht scheiternde Autonomiestreben der Frau auch in unseren ach so permissiven Zeiten. Und das pointierte Ende dieser Erzählungen bestürzt dann umso mehr, als es die Schuldfrage nach Beichte und Plädoyer noch einmal neu und direkt an uns alle zurückgibt.

        Tiepolo

    - Tiepolo und die Unsichtbare Stadt -

   

    Emili Rosales

 

      Historischer Roman

 

          Ungekürzte Taschenbuchausgabe München, Zürich: Serie Piper 2008 (5290)

 

Was hat das namenlose Fischerdorf La Ràpita im Ebrodelta, das Carlos III im Zuge seiner Reformpolitik als Sant Carles einen Moment lang zum Sankt Petersburg des Mittelmeers machen wollte und dessen Ruinen Franco auf einer Propagandatour in den 60-er Jahren nicht einmal mehr eine Erinnerung wert sind, mit der Identität der Katalanen im 21. Jahrhundert zu tun? Eine ganze Menge, wenn wir den 2005 erschienenen und sogleich mit dem Sant Jordi Preis prämierten Erfolgsroman La Ciutat Invisible von Emili Rosales aufmerksam lesen.  

Was hier wie ein historischer Abenteuerroman und zeitgenössischer Krimi in eins daherkommt, wird in der Tiefe zusammengehalten durch jenen knorrigen Mythos der Fremdbestimmung, nach dem die Katalanen sich als Daueropfer willkürlicher Despoten aus Madrid empfinden, der ihnen jede Chance auf kreative Selbstentfaltung verwehre.

Ohne Eigenständigkeit aber kein Heil. Unsere beiden Helden – ihre Namen wirken wie Projektionen ihres 1968 in eben diesem Fischerdorf geborenen Autors Emili Rosales – nämlich Adrea Roselli, der visionäre Bauherr aus Arezzo in Diensten von Carlos III und Emili Rosell, der frustrierte Galerist aus dem Barcelona unserer Tage, müssen diese Lektion unter Schmerzen lernen, bevor sie sich selbst und ihr Glück finden. Denn erst ihr Scheitern weist ihnen den Weg zu einem Leben in Freiheit.

Ohne diesen mythischen Horizont macht die Zusammenschau zweier, 250 Jahre voneinander getrennter Lebenskurven in einem Roman wenig Sinn, in diesem Lichte aber wird die Verschmelzung dieser beiden  Autobiographien zu einem fesselnden literarischen Abenteuer. Erzählerisch aufgezogen wird es geradezu virtuos. Denn die beiden Memoiren treten dem Leser naturgemäß nicht nacheinander vor den Blick, sondern in genau kalkuliertem Wechsel von Kapitel zu Kapitel. Die Spannung des Romans steigt in dem Maße, wie das Verschmelzen der beiden zeitlich unverbundenen Handlungsstränge dem gleichsam kriminalistischen Spürsinn sich erschließt und die Gegenwart durch die Vergangenheit so situiert erscheint. Das Mittel ist wie so oft im Roman der Fund eines Manuskripts.

Hier sind es die italienisch geschriebenen Memoiren von Andrea Roselli, die unserem Protagonisten Emili Rosell mit dem apokryphen Titel La Ciutat Invisible unter mysteriösen Umständen zugespielt werden. Und in dem Maße, wie er dieses Manuskript übersetzt, durchschaut er nicht nur die dramatische Suche seiner Bekannten nach einem angeblich verschollenen, sündhaft teueren Tiepolo, sondern findet auch den Ariadnefaden aus dem Labyrinth seines eigenen fremdbestimmten Lebens, aus den Lügen und Verdrängungen seiner Kindheit.

Und weil der Autor Geschichte nicht als unausweichliches Schicksal, sondern als Entscheidungsfolie für die Zukunft sieht, sucht auch unser Galerist nicht die Wurzeln seiner leiblichen Herkunft in der Francozeit, sondern stellt sich stattdessen dezidiert in die ideelle Nachfolge jenes italienischen Baumeisters, dessen Vision von Sant Carles de la Ràpita er durch eigene Anstrengung gerade erst wieder neu zur Ansicht gebracht hatte. "Meine Familie" so sein letzter Eintrag "in der Nacht, auf dem Weg zum Licht." Ein Schlusssatz, der sich für seine katalanischen Zeitgenossen zumal wie das Versprechen einer kollektiven Leuchtspur liest.  

Tiepolo und die unsichtbare Stadt – der Titel der deutschen Ausgabe, die in der Übersetzung von Kirsten Brandt seit 2008 auch als Taschenbuch in der Serie Piper vorliegt, erweist sich als glücklicher Fund. Schließlich besetzt Tiepolo in diesem „historischen“ Roman narrativ wie diskursiv eine Scharnierfunktion: Spornt die Hoffnung auf einen verschollenen Tiepolo die Gier der Zeitgenossen an, weckt die Erinnerung an das Genie dieses barocken Malers des Settecento, der selbst zeitweise in Karls Diensten stand, die Sehnsucht nach Freiheit. Emili Rosales bietet mit diesem Roman spannende Unterhaltung. Weniger anspruchsvolle Literatur als journalistische Pointierung, gewiss, aber eine, die für die Dauer der Lektüre Figaro ungleich tiefere Einblicke in katalanische Mentalitäten erlaubt als ein Jahresabonnement der spanischen Tagespresse.  

        Das

   - Das Mittelmeer -

   

     Baltasar Porcel 

 

  Eine stürmische Reise durch Zeiten und Kulturen

 

      Berlin: Transit 2009

Katerstimmung liegt in diesen Tagen der weltweiten Banken- und Wirtschaftskrise über Europa, vor allem der Süden scheint von tiefen Depressionen geschüttelt. Die alten, im Zuge des nicht enden wollenden Booms der letzten Jahrzehnte überwunden geglaubten Ängste in der Moderne, die von der eigenen Rückständig- und Bedeutungslosigkeit zumal, stehen dort erneut im Raum.

Da mag die Mediterrània des mallorquinischen Autors Baltasar Porcel wie ein heilsames Therapieangebot erscheinen. Denn diese, eigenem Urteil nach „kapriziöse, historisierende Reise“ (S. 296) durch die Zeiten und Kulturen des Mittelmeers nährt den Traum von der Wiedergeburt dieses Kulturraumes zu alter Größe, vom Mittelmeer als neuerlichem Zentrum der Zivilisation mit Barcelona als möglichem Kraftzentrum einer neuen lebenswerten Ordnung jenseits der Verwerfungen einer im Norden entfesselten lebensfeindlichen Moderne.

Dieses zuerst 1996 erschienene Buch ist nun, seit 2009, unter dem Titel Das Mittelmeer. Eine stürmische Reise durch Zeiten und Kulturen in der schönen Übersetzung von Kirsten Brandt endlich auch dem deutschsprachigen Leser im Transit Verlag zugänglich: Eine spannende Lektüre, schwungvoll, stellenweise anrührend und mitreißend geschrieben. Und was sich auf den ersten Blick wie ein frühes Bewerbungsschreiben für den Vorsitz der von der EU projektierten Union für das Mittelmeer ausnimmt, wird für den geduldigen Leser zu einer aufschlussreichen  Begegnung mit den kulturellen Mythen dieses Raumes, die tief in die kollektiven Befindlichkeiten seiner Menschen hinabreichen.

Ziel dieser kulturellen Spurensuche, die im Osten in vorhellenischer Zeit einsetzt, bis sie im Westen bei den Migrationsbewegungen unserer Tage anlandet, ist ein vertieftes Bild vom Mittelmeer als „gemeinsamem ethnischen und kulturellen Nährboden“ (S. 196). Eine kühne, eine optimistische Vision angesichts des oft lebensbedrohlichen Zusammenpralls der religiösen und ethnischen Besonderheiten, eine Vision, in deren Licht das verwirrende Ringen um die Vormacht an beiden Ufern des mare nostrum wie unzeitgemäße, bedauerlicherweise nicht als solche erkannte Bruderkriege erscheinen.

„Mediterran“ ist das Losungswort dieser Suche. Es steht idealiter für eine besondere Form des In-Der-Welt-Seins, eine Kulturform, die die Landschaft wie das Essen, das Dasein wie das Denken gleichermaßen umschließt. Im Horizont der Entfremdungszwänge der Moderne, wie sie der Norden unablässig generiert, wird das Mittelmeer hier zum Erfahrungs- und Fluchtraum der Sehnsüchte seines Autors: nach Sinnlichkeit und Kreativität, nach Licht und Wärme, nach Schönheit und Leben.

Universale Sehnsüchte bei Licht besehen, in denen Figaro mit seiner Dauersehnsucht nach dem Süden sich unschwer wieder findet. Will ihm doch scheinen, als träume der Mallorquiner ironischerweise hier ein Stück weit jenen Traum individueller Selbstverwirklichung weiter, dem das Unbehagen an den Zwängen des zweckrationalen Denkens, an der zuweilen menschenverachtenden Dynamik des wissenschaftlich ökonomischen Fortschritts gerade in den Zentren des Nordens früh schon und immer neu Form verliehen hatte - seit Winckelmanns Traum von der „edlen Einfalt, stillen Größe“ der Griechen im einstigen  Hellas und in der Folge über die Romantik bis zu den Völkern des Südens, jenen „peuples du Midi“ eines Camus. Porcel indes, der die Mission seiner Insel als Begegnungsraum zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers versteht und namentlich in den Berbern seine Brüder erkennt, träumt diesen Traum freilich weiter, bis er – und das ist beachtlich genug – die Völker des Islam und das Judentum mit umspannt.

Figaro fühlte sich, als er  dieses anregende Buch 416 Seiten später endlich wieder aus der Hand legte, reich beschenkt, wenngleich ein wenig erschöpft, der unvermeidlichen Mühen nach einem solchen par force Ritt durch Zeiten und Kulturen wegen nicht allein. Ein solch bedingungsloses Werben für das Mediterrane hatte ihn nachdenklich gemacht, zumal es sein Kampfprofil implizit auch einer undifferenzierten Ablehnung der Moderne verdankt. Ein Buch, geschrieben gleichsam mit dem Rücken zum Norden, äußerst lesenswert, gewiss, aber auch blind für die Möglichkeiten zum lebensnotwendigen Dialog mit der Welt. Sonst könnte der zerbrechliche Zauber des hier beschworenen Mediterranen, den das wundervolle Schlussbild des Buches noch einmal mit Nachdruck vor unseren Sinnen erstehen lässt, leicht auf Dauer verschwinden:

„Gerade eben hat mir ein wortkarger Fischer zwei Wolfsbarsche gebracht. Ich brate sie mir mit Salz und Öl über dem lodernden Kaminfeuer. Aus dem noch winterkalten Garten hole ich mir den ersten Mangold und ganz zarte Zwiebeln. Dazu mache ich mir eine Flasche kühlen Weißweins auf. Ich habe knuspriges Brot. In diesem Augenblick bin ich dem Glück sehr nahe. Ja, ich bin Teil dessen, was ist und sein wird: unseres Mittelmeers.“

  Solitud

   - Solitud -

     

     Víctor Català

 

    Eine Liebesgeschichte aus Katalonien

         München: Piper 2009  

Wer als Tourist den Süden Europas mit einem Gefühl der Leichtigkeit des Lebens assoziiert, kann in der katalanischsprachigen Literatur hinter der Idylle der Landschaft eine unvermutete Härte des Alltags entdecken, die die Menschen in den Metropolen des Nordens gleichermaßen befremdet wie fasziniert. Der Roman Solitud – „Einsamkeit“ – verspricht ein solches Erlebnis befremdlicher Selbsterfahrung.

Es ist eine ereignisarme, gleichwohl spannungsreiche Geschichte unerfüllter Liebe. Angesiedelt ist sie in der schroffen Bergwelt Kataloniens, die das Leben einer jungen Frau aus dem Volke von Grund auf verändert. Als Mila, überredet von ihrem Ehemann Matías, in der Einsiedelei ankommt, will ihr scheinen, „die dämmrige Abendstille (bedecke) sie mit einem Leichentuch“ (S.27). Doch als sie sich nur ein Jahr später „mit hoch erhobenem Kopf“ und „allein“ an den Abstieg macht, um ihren Mann, einen Tunichtgut, für immer zu verlassen, haben sich zwar „die bitteren Kristalle der Einsamkeit auf ihrem Schicksal niedergeschlagen“ (S. 362), aber sie haben ihr auch Mut zur Eigenverantwortung verliehen.

Es ist ein dramatischer, ein schmerzhafter Prozess der Selbstfindung, der angestoßen wird durch die Begegnung mit dem Schäfer Gaietà, in dem sie einen wahren Freund findet, vorangetrieben durch die frustrierende Gleichgültigkeit von Matías und zum Ausbruch gebracht durch den Wilderer Ànima, der ihr Gewalt antut.  

Der Katalanin Catarina Albert i Paradís ist mit ihrem 1905 unter dem männlichen Pseudonym Víctor Català veröffentlichten Roman ein Werk gelungen, das die katalanische Literatur im Gleichklang mit anderen Literaturen in Europa ausweist. Die Einsamkeit als Thema der ungestillten Sehnsucht der jungen Frau im Kerker der Ehe hatte der realistische naturalistische Roman bereits in Mode gebracht. Und in diesem Horizont mag Mila wie eine entfernte Schwester der Emma Bovary, der Ana de Ozores oder auch der  Effie Briest  wirken. Aber anders als jene Pathologien aus der bürgerlichen Behaglichkeit der Städte entsteht hier in der Unwirtlichkeit des bäuerlichen Lebens am Rande der Zivilisation das überzeugende Portrait einer jungen Frau, die sich still und selbstbewusst aus ihrer unbefriedigenden Ehe befreit – und das lange vor Federico García Lorca oder D.H. Lawrence.

Für die Freunde des psychologischen Romans ein Genuss, ein Muss für die Spurensucher feministischer Literatur. Immerhin schreiben wir das Jahr 1905 in Europa, und das im ländlichen Spanien! Figaro hat es diese Welt noch aus einem ganz anderen Grund angetan: hier begegnen ihm Menschen wie der Schäfer Gaietà, die ihre Zeit nicht mit Jammern oder Klagen verbringen. Menschen, die stark genug sind, das Leben so zu nehmen, wie es kommt, und sich dabei auch noch um andere zu sorgen. Menschen, die wie Mila auch, die Fähigkeit besitzen, pflanzengleich sich dem Rhythmus ihrer Umgebung anzupassen. Doch lesen Sie selbst den Beginn des siebten mit „Frühling“ überschriebenen Kapitels:

„Die ersten Maitage waren wundervoll: Das ganze Gebirge, voller Blütenduft, gleißend hell und erfüllt von Vogelgesang, schien von seiner furchterregenden tausendjährigen Greisenhaftigkeit befreit und zur verheißungsvollen Freude seiner Jugend zurückzukehren. Jeden Morgen beim Aufstehen entdeckte Mila neue Schönheit, die sie tags zuvor noch nicht wahrgenommen hatte; aber sie entdeckte noch etwas anderes: Auch sie selbst schien schöner und jünger zu werden. In ihrem klaren, hellen, doch immer ein wenig schwermütigen Augen erschien ein fröhliches Blitzen, das Rot ihrer Lippen leuchtete mit nie gekannter Intensität, ihre Brüste reckten sich prall wie die einer jungen Mutter, und sie bewegte sich mit anmutiger Leichtigkeit. Diese äußeren Veränderungen gingen mit überschwänglichen Gefühlen und einer gesteigerten Empfindsamkeit einher, die sie selbst verwirrten, weil sie meinte, sich fortwährend zu vervielfältigen und zu einer immer neuen Frau zu werden.“

Dieser osmotischen Einheit der Menschen mit der Landschaft begegnet Figaro oft auf seinen Streifzügen durch die Felder der katalanischsprachigen Literatur, in den Werken von María Barbal oder Mercè Rodoreda, von Jaume Cabrè oder Carmen Riera, von Baltasar Porcel und … manchmal auch beim Bummeln durch die Gässchen von Artà.     

   Mallorca Mord

   - Mallorca Mord inbegriffen -

 

     Maria Antònia Oliver

 

Roman aus dem Katalanischen von Elisabeth Brilke

 

Frankfurt a. M.: Eichborn 1996,  256 S.

       

Dieser Autorin würde Figaro gerne einmal im Interview gegenübersitzen. Denn die Lektüre ihrer Kriminalromane hat seine Neugier geweckt. Genauer gesagt: die Figur der Detektivin Lònia, aus deren Perspektive die Fälle erzählt werden. Hier drei im Fischer bzw. im Eichborn Verlag in deutscher Übersetzung erschienenen Krimis Drei Männer (1985/dt. 1991), Miese Kerle (1988/dt.1992) und Mallorca Mord inbegriffen (1994/dt.1996).

Welch erfrischende Erscheinung in all ihrer Unzulänglichkeit. Tabulos, impulsiv und unerschrocken löst die feministisch angehauchte Lònia mit Hilfe ihres schwulen Assistenten Quim ihre Fälle ohne Rücksicht auf Verluste und steht am Ende doch düpiert, fast mit leeren Händen da, weil ihre Klientinnen, denen sie Genugtuung verschafft, sich der für sie erbrachten Anstrengungen kaum würdig erweisen: weder die reife Frau, der sie den Weg zur Rache an ihren Vergewaltigern eröffnet, noch die naive Großerbin, die aus ihrem Martyrium in den Fangnetzen internationalen Frauenhandels nichts gelernt hat, und auch nicht die gewiefte Wahrsagerin, von der sie sich, ohne es zu ahnen, auf die Zerschlagung eines Kartells zur Kinderpornografie hat ansetzen lassen. Sie wird mit den gefährlichsten Männern fertig und zahlt dabei menschlich doch drauf, nicht zuletzt mit der Einsicht in die Abgründe der menschlichen Natur.

Ihre Fälle besitzen die Dynamik einer Lawine: Was wie ein Allerweltsfall mit einer Vermisstenanzeige beginnt, entpuppt sich unversehens als das Drehen eines viel zu großen Rades im organisierten Verbrechen, mit Mallorca als internationaler Drehscheibe. Und Lònia ohne nachzudenken mittendrin, die Hosen oft gestrichen voll, aber unverzagt. Helden sehen anders aus: Sie strahlt nicht die Souveränität ihrer männlichen Vorgänger aus. Von Sherlock Holmes über Maigret bis Pepe Carvalho keine Spur; aber Lònia gewinnt durch ihre burschikose Unverzagtheit. Ihre Art der Selbstzurücknahme verleiht ihr einen Zug quijotesker Überlegenheit: so gewinnt sie, ob sie gleich scheitert zumindest unsere Sympathie.

Und wo sich mit jedem neuen Fall die Konturen jedes Einzelnen verwischen, gewinnt Lònia, die sich wie einst die Lozana andaluza mit Francisco Delicado ihre Schriftstellerin in Gestalt der Mallorquinerin Maria Antonia Oliver zur Verkündung ihres Rufes selbst ausgesucht hat, immer deutlicher als Kind der Insel an Profil. Ablesbar am Stolz auf ihren mallorquinischen Akzent, am Misstrauen gegenüber dem Fremden und an der Ungeduld gegenüber den Verkarstungen der heimischen machistischen Gesellschaft.

Was gäbe Figaro nicht darum, mit Maria Antonia über Lònia ins Gespräch zu kommen!
   MaDie Allee im Dunkelnllorca Mord

   - Die Allee im Dunkeln -

   

     Antoni Serra

Roman aus dem Katalanischen von Volker Glab

Frankfurt a. M.: Valentia 2008 (Mallorca erzählt. Literatur der Balearen 10) 273 S.

 

Seit Figaro den Roman aus der Hand gelegt hat, geht er ihm nicht aus dem Sinn. Er hatte schwer nur in ihn hineingefunden, jetzt fand er schwer nur aus ihm heraus. Zu manieristisch im Stil, zu exzentrisch der aristokratische Agent in Diensten der Ministerialbürokraten des demokratischen Spanien, zu belanglos auch sein Auftrag: die Enttarnung eines Maulwurfs der ausländischen Geheimdienste auf Mallorca zu Zeiten von Mauerfall und Perestroika. Da lag für den Nordländer das „human interest“ nicht gerade auf der Hand.

Als ironische Metapher indes offenbart dieser eher sperrige Spionageroman Figaro dann doch noch ein faszinierendes Eigenprofil – jenseits des herben patriotischen Charmes der Gattung à la Childers wie der kulinarischen Coolness eines James Bond. „Senyor Enric Puigdenfila i Visconti, Vizegraf von Oloscau, Ritter des Heiligen Grabes und des Elfenbeinkreuzes, hoher Beamter des Außenministeriums außer Dienst, Angehöriger der Geheimdienstes“ erzeugt als Dandy mit englischen Allüren Zwischentöne zwischen Gut und Böse, stiftet Raum zur ironischen Entlarvung der narzisstischen Mythen hinter dem Machogehabe der Geheimdienstler und gestattet augenzwinkernd mit seinen distanzierten Beobachtungen einen unvermuteten Blick auf die komplexe Seelenlage der Mallorquiner, ihren hochfahrenden Stolz, ihr tiefverwurzeltes Misstrauen gegenüber allem Fremden und ihren abgrundtiefen Versagerängsten gleichermaßen. Gleichsam spielerisch wird so der unterhaltsame Spionagethriller zum verlässlichen Spiegel mallorquinischer Mentalitäten unserer Tage.

Keiner langen Kommentare bedarf es zu solchen Einsichten. Es sind vielmehr beiläufige Bemerkungen, situative Beobachtungen unseres Agenten, die schlaglichtartig diese im Dunkel der Verdrängung wabernden Mythen der Insulaner erhellen. Sie blitzen in alltäglichen Situationen wie an Wendepunkten der Geschichte auf. So der zwanghafte Reflex, den als (fortschrittlicher geltenden) Nordeuropäern immer mindestens auf Augenhöhe begegnen zu müssen, und sei es auch nur bei der Bestellung eines sorgsam ausgewählten Gerichts im Restaurant: ein kurzgebratenes Brassenfilet mit Salzkartoffeln.

‚„Aber von denen aus Sa Pobla, ja?“, dazu einen gut gekühlten Rheinwein, „Aber er soll von Rhein sein; ich will keinen Ersatz, es gibt schon genug nachgemachte spanische, die so tun wollen, als wären sie Europäer“, machte er dem Maître klar und lächelte dazu in stillschweigendem Einverständnis.“ (S. 72)

Ungeachtet seines Distinktionsverlangens teilt unser anglophiler Dandy sowohl das Misstrauen seiner Landsleute gegenüber dem Fremden (S. 236) als auch deren Minderwertigkeitstrauma  gegenüber den ach so effizienten Nordeuropäern (S. 266). Als Kompensation genießt er die seiner wachen Intelligenz und seinem Lebensstil geschuldete Überlegenheit gegenüber den effizienten, aber hölzern, roboterhaft wirkenden Geheimdienstlern in der DDR (S. 200) in vollen Zügen  und verachtet die ansonsten gefürchteten Kollegen aus England, wenn sie sich als Touristen auf seiner Insel als Banausen entlarven (S. 256).

Der Spionageroman als Mythenkritik, kein schlechtes Argument für eine Lektüreempfehlung, zumal diese geistreich und mit augenzwinkerndem Lächeln erfolgt.

                     Senyoria        

- Senyoria -  

Jaume Cabré 

Roman aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt

 Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010 (st 4204) 444 S.

 

Dieser 1991 unter dem Titel Senyoria in Barcelona auf katalanisch erschienene Roman ist eine der gegenwärtig so beliebten historiographischen Metafiktionen, d.h. jenes Typs von historischem Roman, in dem die Merkmale einer vergangenen Epoche mit frei erfundenen Akteuren und Ereignissen eingefangen werden und dessen Handlungsführung sich als spannende mise-en-abîme entpuppt.  

Die Handlung spielt in der Endphase des Absolutismus in den tonangebenden Kreisen von Barcelona, einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch die postrevolutionäre Angststarre der Eliten in Europa vor dem Umsturz im eigenen Land. Die ökonomische Erschöpfung des Adels auf der einen und die Skrupellosigkeit des nachdrängenden Bürgertums auf der anderen Seite lassen jede Form zukunftsweisenden Handelns zur sinnlosen Geschäftigkeit einer Tretmühle verkommen. In Katalonien zumal, wo die Eliten die Ohnmacht ihres Stellvertreterdaseins für die okkulten Machthaber im fernen Madrid durch rauschende Feste überdröhnen. Die Millenniumsfeier  des Jahres 1800, in deren Verlauf der Gerichtspräsident von Barcelona, der sich so gerne im Glanz seines Titels Sa Senyoria sonnte, seinen Tod und der Roman sein Ende findet, ist trauriger Höhepunkt dieser Haltung. 

Postmodern ist auch die Dynamik der Handlungsführung: das Geschehen scheint so zufällig wie die Wertmaßstäbe in der Gesellschaft beliebig. Obskure Vorfälle an der Peripherie dieser Welt verrücken so die Statik des Zentrums. Eine Reihe scheinbar zusammenhangloser Zufälle – der Tod eines angehenden Poeten nach kurzer Liebesnacht mit einer nymphomanen Sängerin, die Lebensbeichte eines vergrämten, rachsüchtigen Gärtners, das Auftauchen eines kompromittierenden notariellen Protokolls – legen sich im Abgleich der Perspektiven der Betroffenen unvermutet wie eine Schlinge um den Hals des Gerichtspräsidenten, der nicht einsehen mag, dass sein längst verdrängtes Verbrechen in Wahrheit der Ausgangspunkt so unterschiedlicher Begebenheiten werden konnte.   

Dass er die Schlinge schließlich selber zuzieht, ist Ausdruck seiner Verblendung. Eine absurde Ironie des Aufbaus: Alles, was der gehörnte Alte zur Vertuschung der Ermordung seiner Geliebten unternimmt, fällt unerbittlich, aber gleichsam auf Umwegen und unvorhersehbar auf ihn zurück. Eine Katharsis geht daher von seinem Ende nicht aus. Sein Suizid sühnt nichts, weder  seine Verderbtheit noch die Korruption des Systems, dessen Teil er ist. 

Erzählt wird diese Geschichte aus fernen Tagen in wechselnden Modi der Ironie, frei von Pathos und Besserwisserei, gleichsam eine diskrete Allegorie unseres eigenen Tanzes um das Goldenen Kalb, in dem die Stellvertreter-Eliten unserer Tage ihre schamlose Selbstsucht in einer Welt am Rande des Abgrunds inszenieren.

Nebeldame

- Die Nebeldame -

Gabriel Janer Manila

Roman aus dem Katalanischen von Axel Schönberger

Frankfurt a. M.: Domus Editoria Europaea 2003, 167 S.

 

Wer Literatur als einen besonderen Ort nationaler Standortsuche versteht, differenzierter und nachhaltiger als jener andere, von der Hektik der politischen Schlagzeile in den Massenmedien inszenierte, kommt hier voll auf seine Kosten. Ist dieser 1987 unter dem Titel La Dama de les boires bei Plaza y Janés erschienene Roman doch weit eher ein aktuelles Reflexionsangebot über die Identität der Insel als ein historischer Bericht, so kulinarisch anregend dieser auch immer sein mag.   

Und kulinarisch ist der Kern der Geschichte allemal: die historisch verbürgte Verbindung zwischen Erzherzog Ludwig von Österreich und der Tischlerstochter Catalina Homar enthält gewiss das Potential eines erfolgversprechenden Feuilletonromans à la Eugène Sue, die Erlösung des mächtigen Fremdlings von seinen inneren Dämonen durch die Liebe der einheimischen Schönen eingeschlossen. Dass hier freilich die Liebe nicht siegt und das Idealbild  des legendären Liebhabers der Insel, dem wir ein bis heute lesenswertes Standartwerk über die Inselgruppe – Die Balearen in Wort und Bild –  verdanken, hinter den despotischen Zügen eines libidinösen Freigeistes verschwindet, wird den Reiz für den Leser kaum schmälern. Im Gegenteil! Eine intellektuelle Leserschaft zumal wird für eine solch mythenkritische Lektüre der auf Mallorca immer noch sehr lebendigen Überlieferung des Aufsehen erregenden Treibens dieses großaristokratischen Sonderlings zwischen Valldemossa und Deià im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eher dankbar sein. 

Inszeniert wird diese Entzauberung durch die Wahl eines Dritten zur dominanten Perspektive des Romans. Als Martí, der zunächst noch namenlose Ich-Erzähler, seinen Bericht über die wahre Natur der Beziehung des Erzherzogs zur Insel und der dort von ihm abhängigen Menschen beginnt, lebt er als Klausner in einer kleinen Einsiedelei nahe S’Estaca, wo Catarina, die Catalina des Romans, dessen Weingut während der quälend langen Abwesenheit des umtriebigen mächtigen Eindringlings  bis zu ihrem Tode verwaltet hatte. Auch für ihn wie für die zur Senyora aufgestiegene Lieblingskonkubine, zu er sich lange selbst in heimlicher Liebe verzehrte,  war der Mächtige aus dem Norden unvermutet Liebhaber, Vater und Mentor geworden, dem der ungebildete Bauernsohn von einst nicht nur seine leidvollen Verirrungen, sondern auch seinen Aufstieg zum Ordenspriester verdankt. So wird sein langer Brief an die Adresse des ersehnten, so lange schon fern von Mallorca in der Welt umherschweifenden Herrn, jenes Verführers und Förderers in eins, zu einem schwierigen Rechenschaftsbericht, zum schmerzlichen Versuch einer Selbstvergewisserung durch Distanznahme.

Dieser Versuch beginnt am Tag des Todes der an einer ansteckenden und unheilbaren Hautkrankheit verstorbenen Geliebten am „11. April 1905, zur Stunde des ersten Schlafes“ und endet ein Jahr später am „4. April 1906, während des Vespergesangs“, als auch der Erzähler bereits die tödlichen Flecken auf seiner Haut bemerkt. In der Strenge des klösterlichen Tagesablaufs ringt er in Form eines Journal intime in seinen über diesen Zeitraum verteilten Tagebucheintragungen – 27 an der Zahl – nach Ordnung in seinen Erinnerungsfetzen und nach Bewertung des überlegenen Fremden für die Insel und ihre Menschen. Ein schwieriges Unterfangen: so assoziativ die Erinnerung Raum und Zeit überfliegt – die letzten fünf Jahre einer gewollten Abwesenheit Ludwigs von der Insel, aber auch dessen Kindheit in der Toskana und dessen sporadischen Kontakte zum Hof des kaiserlichen Wien –,  so vielschichtig erscheinen die Urteile über das Zusammentreffen zweier derart  unterschiedlicher Welten, über die Ambivalenz von Fortschritt und Zerstörung, über Fluch und Segen von Schönheit und Macht.

Leicht überschaubar – kulinarisch – ist eine solch postmoderne Erzählanlage selten, aber hier belohnt sie Geduld und Mitwirkung des Lesers, wird gar zur Einladung an den neugierig gewordenen Zeitgenossen. Denn die Brüche und Sprünge, Überlappungen und Auslassungen öffnen zugleich Perspektiven, die über das Anekdotische dieser sonderbaren Dreierbeziehung weit hinauszielen, und weiten so die Erzählung vielfältig zur zeitgenössischen Allegorie.

Im Horizont der hitzigen Debatten über die Folgen des Massentourismus heute – der heutzutage vielfach sogenannten „sechsten Invasion“ der Insel – wirken die Überlegungen  Martís freilich wohltuend differenziert, bieten die Irrungen und Wirrungen unserer Protagonisten im Roman wenig Raum für Stammtischurteile oder die Totschlagargumente des Boulevard. Schwer zu sagen, wer hier Täter, wer Opfer ist, wo die Grenze zwischen Ursache und Wirkung verläuft. Vielmehr eine Schicksalsgemeinschaft der Einheimischen mit dem Fremden, dazu verurteilt, gemeinsam nach Wegen in eine ungewisse Zukunft zu suchen.

Wer wie Figaro als Kind des Rhein-Ruhrgebietes, einer Gesellschaft mit unabweislichem Migrationhintergrund, Liebhaber solch hintergründiger literarischer Identitätsdiskurse ist, wird bereitwillig hinter der historischen Erzählung solch aktuellen politischen Dimensionen nachspüren. Und hier muss er auch nicht lange suchen, um fündig zu werden, um hinter den abschweifenden Erörterungen des Erzählers über die Freiheitskämpfe im kaiserlichen Vielvölkerstaat zur Zeit des Fin de Siècle etwa die brisante Standortsuche der Insel innerhalb der Països Catalans wie mehr noch innerhalb Spaniens, jener – eigenem Bekunden nach –  „nación de quatro nacionalidades“, ansichtig zu werden.

Kurzum: Eine lohnenswerte Lektüre für alle, denen  das Schicksal der Insel ans Herz gewachsen ist. 
Piñol

- Im Rausch der Stille -

Albert Sánchez Piñol

Roman aus dem Katalanischen von Angelika Maas

Frankfurt a. M.: S. Fischer 32007 (16557) 251 S.

 

Diesen 2002 im Original unter dem Titel La pell freda – Die kalte Haut – erschienenen Bestseller musste Figaro gleich ein zweites Mal lesen. So schaurig schön und rätselhaft erschien ihm diese Erzählung eines vom Triumph der eigenen Bewegung frustrierten Freiheitskämpfers der irischen Republik, der sich für ein Jahr als Wetterbeobachter auf ein gottverlassenes kleines Eiland am Rande der Antarktis verpflichtet und der nach Ablauf des Jahres – den sicheren Tod vor Augen – gleichwohl die Rückkehr in den Schutz der Zivilisation verweigert. Genauso wie bereits ein Jahr zuvor der Spezialist für Seezeichen Batís Caffó bei der Ankunft des namenlosen Ich-Erzählers die mögliche Rückkehr ausgeschlagen hatte, und der inzwischen von den unheimlichen Froschmenschen getötet wurde, die nachts im Schutz der Dunkelheit lautlos dem Meer entsteigen, um die Insel gegen den erbitterten Widerstand der beiden einzigen Menschen dort zu besetzen.

Auf den ersten Blick ein spannender Abenteuerroman mit Elementen von Fantasy und Science Fiction, linear, handlungsorientiert und in präziser Diktion erzählt, gewiss! Auf den zweiten indes eher ein Stück jener emblematischen Literatur zur Zeit des Barock, in der die erzählte Geschichte als Exempel einer vorangestellten allgemeinen philosophischen Einsicht oder anthropologischen Wahrheit fungiert.

Auch hier eröffnet ein Aphorismus die Erzählung, der gleichsam als Sinnspruch für das Folgende empfohlen wird. „Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken. Und deshalb glauben wir, dass wir denen, die wir lieben, nie ganz nahe sind. Als ich mich einschiffte kannte ich dieses grausame Gesetz bereits. Doch es gibt Wahrheiten, die unsere Beachtung verdienen, und solche, mit denen wir uns besser nicht befassen.“ (S.5)

Im Horizont der zweiten Lektüre scheinen die Stationen des Romans – Extremsituationen allemal – dieses „grausame Gesetz“ der menschlichen Natur zu illustrieren: das Eingespanntsein „in einer von Gewalt gesteuerten Welt, die das Unglück der Menschen endlos fortsetzt“ (S.35), solange das Nicht-Verstehen-Können des Gegenüber die Regel bleibt. Gefangen in  der eigenen Haut, bleiben die Fremden [hier: die „Citauca“, sprich die Acautic, die Unterseewesen und die Überläuferin „Aneris“, sprich Sirena, die Geliebte aus dem Meer) oder der Andere (hier: Batís Caffó, der „Scheißösterreicher“ (S. 224)] angstbesetzte Gegenüber, die uns eine Reise ins Innere des eigenen Ich aufnötigen, vor der wir nicht selten   –  wie unserer Ich-Erzähler auch – nur erschaudern können.

Emblematisch auch die Ausgangssituation unseres Ich-Erzählers: Die Flucht aus Frust aus der Mitte an den Rand der Zivilisation. Sie ist spätestens seit der Romantik ein Grundmuster fiktionaler Reiseliteratur,  von Chateaubriand bis Joseph Conrad oder Alejo Carpentier immer neu mit großem Erfolg variiert. Und natürlich fehlt die mit einem solchen Abenteuer einhergehende Relativierung Europas und seiner Werte, die uns seit der Frühen Neuzeit, in den Erfahrungsberichten der spanischen Eroberer, mehr noch in den skeptischen Essais eines Michel de Montaigne begegnet, auch hier nicht. Im Rausch der Stille verdankt wohl nicht zuletzt dieser universalen kulturellen Vernetzung seine breite Resonanz als spannende Unterhaltung und als Reflexionsangebot.

Figaro nimmt solche Angebote immer gerne an – natürlich auf eigene Gefahr und ohne Gewähr. „Ich war das letzte Sandkorn dieses unendlichen Strandes, der Europa heißt.“ (S.172) Dieses ungewöhnliche, schöne Bild für das Gefühl der Verlorenheit unseres Protagonisten etwa lud ihn einen Moment lang zum Verweilen ein. Auf der Ebene der Erzählung ist die tiefe Ernüchterung dieser Feststellung im Gefolge eines schier ausweglosen Abwehrkampfes gegen die unnachgiebigen Citauca unmittelbar nachempfindbar. Im Horizont des zuvor skizzierten posteurozentrischen Diskurses wirkt diese Metapher Europas zugleich als Appell, das Gewicht und die Stellung dieses kleinsten aller Kontinente im Zeichen der aktuellen Globalisierungstendenzen neu zu vermessen. Eine nicht ganz unzeitgemäße Überlegung auf einem dramatisch schrumpfenden Archipel! Wird das einst stolze Europa bald selbst „eine verlorene [Halb-]Insel am Rande der bewohnbaren Welt“, als Festung unablässig berannt von undurchschaubaren Fremden wie das Eiland unseres Ich-Erzählers? – „Ein Stück Land, das zwischen dem Grau des Ozeans und dem Grau des Himmels zerdrückt wurde und von einem weißen Schaumband umgeben war“. (S.6) 

Mit anderen Worten: Anlage, Schreibart und Thematik dieses Romans provozieren eine wiederholte Lektüre und sie verdienen sie auch. Er ist zudem der erste internationale katalanischsprachige Bestseller seit dem Neuanfang dieser Literatur in den sechziger Jahren mit universalem Anliegen, bei dem auf der Ereignisebene die Bespiegelung des tema de Catalunya zumindest nicht im Vordergrund steht.

 diamant

 - Auf der Plaça del Diamant -

Mercè Rodoreda

Roman aus dem Katalanischen von Hans Weiss

mit einem Nachwort von Gabriel García Márquez
 

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 (st 3878) 251 S.

 

Natàlia, die Ich-Erzählerin dieses Romans, hat schon als junges Mädchen lernen müssen, sich widerspruchslos an die Gegebenheiten anzupassen, an die Lieblosigkeit im Hause des Vaters, in dem die Stiefmutter den Ton angibt, an die Launen ihres Taugenichts von Ehemann Quimet, der sie nur noch Colometa, das Taubenmädchen nennt und ihr jede Eigenständigkeit abspricht, obwohl er sie mit der Sorge um ihre beiden Kinder alleine lässt, an die Ausbeutung auch durch ihre herzlose Herrschaft, in deren Diensten sie Hunger und Not während des Bürgerkrieges getrieben haben. Sie hat lesen und schreiben gelernt, genug um Backwaren zu verkaufen, zu wenig, um zu verstehen, warum Männer in den Krieg ziehen, um – wie ihr Mann und ihre Freunde – dort den Tod zu finden, und warum danach Sieger Besiegte auf  offenem Platz erschießen. Dieser allgemeinen Todesspirale ist sie hilflos ausgeliefert, bevor der Zufall einer Begegnung mit Antoni sie davor bewahrt, sich in ihrer Verzweifelung mit ihren beiden Kleinen das Leben zu nehmen. Erst an der Seite dieses fürsorglichen Kolonialwarenhändlers, der impotent als Kriegsinvalide den Wahnsinn überlebt hat, findet sie mühsam zu sich selbst und ein bescheidenes Glück als Mutter und Frau.

Eine Allerweltsgeschichte aus dem Barcelona der 30-er Jahre mithin. Im Mittelpunkt steht eine einfache Frau, fraglos fremdbestimmt von ihrem Vater, ihrem Mann, ihrem Arbeitgeber, von der Gesellschaft und überrollt von den Ereignissen. Nichts Spektakuläres halt. Und doch hat diese Geschichte aus einer anderen Zeit Figaro unmittelbar angerührt. Zugegeben, Geschichten aus dem Alltag der kleinen Leute haben es ihm schon immer angetan. Aber diese ging ihm so sehr unter die Haut, dass er bei ihr mit wachsendem Interesse zu wiederholter Lektüre verweilen mochte. Es war wohl zuerst der suggestive und eindringliche Ton, der auch in Momenten höchster Not frei von deklamatorischem Pathos bleibt, der ihn immer neu fesselte. Hier wirkt alles sinnlich, konkret, authentisch. Diese Wirkung ist – technisch gesprochen – der personalen Erzählsituation mit Reflektorfigur geschuldet, d.h. die Romanfigur ist hier nicht nur Handlungsträger, sie fungiert auch als Ersatz eines (auktorialen) Erzählers, und das gleichermaßen in erzählender und in reflektierender Weise. Wir partizipieren so unmittelbar an den Bewusstseinslagen der Figur, teilen deren Perspektive, ohne doch von ihr vereinnahmt zu werden.

In etwa so wie in jener Situation, in der die allein gelassene Frau unter der alltäglichen Überforderung schier zu zerbrechen droht:

„Das Gegurre verfolgte mich, wenn ich morgens zur Arbeit ging, es war wie eine Hummel, die in meinem Gehirn rumorte. Manchmal sagte mir die Senyora etwas, aber ich war so zerstreut, daß ich ihr nicht antwortete, und da sagte sie dann, hören sie mich denn nicht?

Wie sollte ich ihr denn sagen, daß ich nur noch die Tauben hörte, daß mir die Hände nach Schwefel rochen, den ich in die Tränken tat, und nach Futter, das ich vorsichtig in den Freßnäpfen verteilte, damit auch nichts verloren ging und damit es überall gleichmäßig verteilt war. Wie sollte ich ihr denn sagen, daß ich jedes Mal, wenn ein halb ausgebrütetes Ei aus dem Nest gefallen war, vor dem Gestank zurückschreckte, auch wenn ich mir die Nase mit zwei Fingern zuhielt. (...) Und daß alles nur deshalb angefangen hatte, weil ich bei ihr zu Haus arbeiten musste und so müde war, daß ich mich nicht einmal zum Nein sagen aufraffen konnte, wenn es nötig war. Wie sollte ich ihr denn sagen, daß ich niemanden hatte, dem ich mein Leid klagen konnte, daß meine Qual eine Qual ganz für mich allein war, und wenn ich mich ab und zu mal zu Haus beschwerte, fing Quimet an und sagte, sein Bein täte weh. Wie konnte ich ihr denn sagen, daß meine Kinder wie zwei verwahrloste Blumen waren, und daß meine Wohnung, ein richtiges kleines Paradies, jetzt nur noch eine große Rumpelkammer war, und daß ich abends, wenn ich die Kinder zu Bett brachte und ihnen das Nachthemdchen hochhob und auf den Nabel drückte und Klingeling machte, damit sie lachten, nur das Gegurre von Tauben hörte, und mir der Geruch der fiebernden Tauben nicht aus der Nase ging. (...)“ (S. 114 f.)

An Stellen wie diesen ist Figaro geneigt, dem Lob des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez über die Erzählkunst von Mercè Rodoreda uneingeschränkt beizupflichten: „ Offenbar wissen nur wenige Leute außerhalb Kataloniens, wer diese unsichtbare Frau war, die in herrlichem Katalanisch einige schöne und harte Romane schrieb, von denen es in der gegenwärtigen Literatur nicht viele gibt. Einer von ihnen – Auf der Plaça del Diamant – ist, meiner Meinung nach, der schönste, der nach dem Bürgerkrieg in Spanien veröffentlicht wurde.“ (S. 227)

Wie hoch auch immer der Einzelne diesen Roman aus dem Jahre 1962 für sich persönlich ansiedeln mag, eine Begegnung mit dieser 1983 verstorbenen Erzählerin lässt den Leser hoch beschenkt zurück, La Plaça del Diamant ebenso wie Mirall trencat (Der zerbrochene Spiegel) oder Tots els contes („Sämtliche Erzählungen“). Sie öffnen ihm den Blick für die Unterschicht und bringen ihm unabweisbar die weibliche Sprache zu Gehör. Ein selten gewordenes Lesevergnügen. Dank Mercè Rodoreda hat auch der katalanische Roman teil an der europaweiten Erneuerung der Gattung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts.

trottel

- Tausend Trottel -

Quim Monzó

Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke

Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2009, 142 S.

 

Den gegenwärtigen Meister der katalanischen Kurzprosa hat Figaro in dessen neuestem Erzählband „Tausend Trottel“ schnell an der unverkennbaren Stilgroteske erkannt. Die Kurzgeschichte Am Samstag in diesem Band mag da als Beispiel stehen. In ihr erleben wir aus der sicheren Distanz eines analytischen Beobachters, wie eine Sechzigjährige an einem einzigen Tag alle greifbaren Erinnerungen an ihr bisheriges Leben, an ihre Ehe zumal, mit gnadenloser Konsequenz entsorgt. Was mit dem raschen Schnitt in ihr Hochzeitsfoto, aus dem sie ihren Ehemann entfernt, beginnt, findet mit dem ebenso ungerührten Stich in den eigenen Daumen als Auftakt einer peniblen Selbstenthäutung seinen Abschluss, nachdem zuvor bereits alles andere in Haushalt und Wohnung, was jemals mit ihm in Berührung gekommen war – Kleider und Mobiliar, Fliesen und selbst die Farbe an den Wänden – auf dem Müll gelandet ist. Da lohnt ein  Blick auf das Ende der Geschichte:

„Es ist Samstag, und deshalb ist es überall still. Im Hausflur, in den anderen Wohnungen, auf der Straße. Fast alle schlafen noch. Sie steckt die Hände in die Schürzentasche und spielt mit der Schere. Sie holt sie heraus, und mit der Stelle, wo sie am spitzesten ist, sticht sie in die Haut des linken Daumens, dicht neben dem Nagel, und als es ihr endlich gelingt, die Stelle einzuritzen, steckt sie die Schere wieder in die Schürze und reißt mit der rechten Hand nach und nach die Haut ab. Ab und zu hält sie inne und tupft das Blut mit der Schürze ab.“ (S. 43 f.)

Diese Pointe als Höhepunkt ihrer Selbstentsorgungsorgie ist geradezu zum Weinen komisch und offenbart zugleich die existentielle Absurdität ihrer Aktion. Die tragikomische Wirkung verdankt sich der Stilgroteske, die Quim Monzó so virtuos beherrscht. Die Diskrepanz zwischen dem analytischen Gleichmut der Beschreibung und der tabuisierten Ungeheuerlichkeit des Beschriebenen, die konkrete Detailgenauigkeit im Unsagbaren, nicht zuletzt das äußerlich fassbare An- und Abschwellen im Rhythmus der Sätze als Ausdruck der inneren Dramatik sind hier die auffälligsten Merkmale.

Es sind nicht die einzigen. Die Vorliebe für Allerweltsfiguren mit exzentrischer Macke – tausend Trottel halt – und der erfrischende Blick für das Ungewöhnliche im Alltäglichen machen auch diesen Erzählband zu einem humorvollen Lesevergnügen. Eine Spur melancholischer vielleicht als bei den früheren Sammlungen – „Vom Grund der Dinge“ (1995) etwa oder „Die beste aller Welten“ (2002). Haben doch Altern, Sterben und Tod sich hier thematisch auf Kosten der Sexualität in den Mittelpunkt geschoben, eine Tendenz, die bereits in der  2007 herausgebrachten Sammlung seiner Erzählungen unter dem Titel „Hundert Geschichten“   erkennbar war.

Für Figaro war die Begegnung mit Quim Monzó literarisch gleichwohl stets ein Vergnügen. Dieses 2007 im Original unter dem Titel „Mil cretins“ erschienene, einmal mehr von Monika Lübcke virtuos übersetzte und von der Frankfurter Verlagsanstalt handwerklich sehr ansprechend gestaltete Bändchen, macht da keine Ausnahme. Schließlich ist auch Figaro älter geworden.

Ob er den in Katalonien vielfach ausgezeichneten Erzähler darum gleich als angehenden Nobelpreisträger sieht, wie etwa die Tageszeitung „La Vanguardia“, für die der 1952 in Barcelona geborene Autor seit Jahren als Kolumnist tätig ist, sei dann doch dahingestellt. Einstweilen reicht ihm dessen Verortung in der illustren Familie der grotesk absurden Avantgarden des 20. Jahrhunderts für eine nachdrückliche Lektüreempfehlung völlig aus.

Puppen

- Das Puppenkabinett des Senyor Bearn -

Llorenç Villalonga

Ein mallorquinischer Familienroman, aus dem Katalanischen von Jürgen Koch, mit einem Nachwort von Johannes Hösle

München, Zürich: Piper 2007, 364 S.

 

Der Niedergang einstiger Größe ist seit jeher ein privilegiertes Thema der Literatur, schon allein wegen der Vielfalt und Differenziertheit der Identifikationsangebote mit dem je anders inszenierbaren menschlichen Leiden.

Im Puppenkabinett des Senyor Bearn steht das Leben eines Junkers im Fokus, der es fertigbringt, sein Erbe, ein riesiges Landgut, bis auf den letzten Pinienhain ungerührt aufzuzehren – als junger Mann durch die Eskapaden seiner Neugier (Teil 1 „Unter dem Einfluss von Faust“) und als gereifter Mann durch die egoistische Muße beim Verfassen seiner Memoiren (Teil 2 „Friede herrscht auf Gut Bearn“) – bevor er ohne Nachfahren, wenn auch nicht kinderlos, völlig ruiniert, aber mit sich selbst im Reinen den Freitod an der Seite seiner Frau und Cousine Maria Antònia findet, einer treuen Seele, der die ruinösen Neigungen und Träume ihres Mannes immer fremd geblieben waren. Ein „seltsames Leben“ aus der Sicht des Erzählers dieses mallorquinischen Familienromans („Prolog“, S. 13), des Kaplans der Familie und mutmaßlichen unehelichen Sohns unseres Junkers Don Tonet, gewiss, aber auch ein Leben, das exemplarisch stehen kann für das Schicksal der Feudalaristokratie am Ende des 19. Jahrhunderts, wenn nicht jedweder Elite, die nicht willens oder fähig ist, auf revolutionäre Veränderungen zeitgemäße Antworten zu finden.

Eigenes Profil aber erhält dieser Roman durch die besondere Anlage der Erzählung gleichsam latent als doppelte Autobiographie: die Memoiren des Junkers und die Kommentare des Kaplans. Doch die Memoiren des Junkers, die dem Kaplan zur Veröffentlichung aufgetragen sind, kommen hier nur in Auszügen zur Anschauung, Auszüge überdies, die dieser auswählt und im Horizont seiner Lebenserfahrung im Hause der Bearn in der Absicht kommentiert, sie ungeachtet des sündhaften Geschehens und der ketzerischen Ansichten dem Sekretär des Erzbischofs von Spanien zur Veröffentlichung zu empfehlen, um so das Vermächtnis seines trotz aller Fehler bewunderten Herrn loyal einzulösen. Im Zusammenspannen dieser Positionen sind die Spannungslinien durchgängig vorgegeben. Nicht nur zwei Welten treffen hier aufeinander – Junker und Bauernsohn, Lebemann und Asket, Aufklärer und Kirchenmann –, sondern auch zwei sperrige Charaktere mit ihren Widersprüchen, die sie zudem zum eigenen Lager auf Distanz halten: der patriarchalische Freigeist, der an der Prügelstrafe gegenüber dem leibeigenen Personal festhält, obwohl er die Herrschaft seiner Kaste als Anachronismus empfindet und der leutselige Sohn der Kirche, dem Hoffahrt und Jähzorn dennoch übel mitspielen, können hier weder zueinander finden noch voneinander lassen.  

Das Ergebnis ist eine erfreuliche Komplexität der Figuren, mit denen wir uns je nach Konstellation der Erzählung unterschiedlich identifizieren können: kathartisch, wenn wir die Akteure dieses Dramas als schuldlos Schuldige durchschauen, als Mitverantwortliche am eigenen Schicksal, sympathetisch, wenn wir mit ihnen als Opfer der Veränderungen mitempfinden und komisch, wenn sie uns mental als Karikaturen begegnen, als Marionetten kollektiver Vorurteile. Den letzten Typ der Identifikation hält vor allem der „Epilog“ vor, der, einem esperpento gleich, den Triumph eines „unbeholfenen Bauern über zwei Persönlichkeiten, bedeutende Historiker und Vertraute Bismarcks“ (S. 347) inszeniert, indem unser Kaplan, um so den Eindringlingen aus der Fremde den Blick auf den Ursprung der eigenen Eliten auf immer zu verstellen, das Objekt ihrer Begierde, das geheimnisumwitterte Familienarchiv im sogenannten Puppenkabinett, in Flammen aufgehen lässt, derweil die gewichtigen Herren aus dem protestantischen Norden, voll des süßen Weins aus Beníssalem, noch ihren Rausch ausschlafen.

Ein sehr gelungener, ebenso aufschlussreicher wie kurzweiliger historischer Roman in der säkularen Tradition dieser Erzählgattung in Europa und ein sehr mallorquinischer obendrein, der erste seiner Art in Mallorca von Gewicht! Verständlich, wenn ihm im Horizont von tremendismo und Neorealismus, den literarischen Moden in Spanien und Europa zum Zeitpunkt seiner ersten Veröffentlichung 1956, damals noch auf Spanisch, der Erfolg zunächst versagt bleibt. Der stellt sich in der Tat erst mit der überarbeiteten katalanischen Fassung des Romans 1961 und dann 1967 unter Einschluss auch des „Epilogs“ ein. Spätestens nach der Verfilmung des Romans 1983 von Jaume Chávarri als historisches Drama („una de las películas que Mallorca nunca olvidará“- Diario de Mallorca 9/10/2007) gehört Bearn o la sala de les nines zur kulturellen Wegzehrung des gebildeten Mallorca. Schön, dass der Roman im Piper Verlag seit 2007 nunmehr auch auf Deutsch zugänglich ist.

Denn nicht zuletzt die deutsche Lesegemeinde darf sich hier von der Inszenierung eines markanten Zuges im Selbstverständnis der mallorquinischen Eliten im Umgang mit dem Fremden direkt angesprochen fühlen. In den Herren von Bearn findet dieser Zug exemplarisches Profil: jene in sich ruhende Selbstbespiegelung als Lebenseinstellung, die sich freilich als trügerisch verrät, sobald sie, Fieberschüben gleich, von Begeisterung oder Skepsis gegenüber den Neuerungen aus dem Norden Europas aufgerüttelt wird. Diesen Pendelschlag zwischen der Sehnsucht nach der erhabenen Ruhe der Insel und der „faustischen“ (S. 228) Neugier nach Dynamik und Lebensart des Nordens, der das Leben unserer Helden im Roman taktet, spürt Figaro heutzutage immer noch in seinen Gesprächen auf der Insel. Dabei mögen die Pole dieser Unruhe – Paris und Berlin – anders besetzt sein als bei unserem Junker Toni, aufgeladen aber sind sie immer. Für Figaro hat Literatur sich hier einmal mehr als verlässlicher Wegweiser in die mentale Landschaft Mallorcas erwiesen.

 
Ins fernste Blau

- Ins fernste Blau -

Carme Riera

Der historische Mallorca-Roman

Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann und Manuel Pérez Espejo

Bergisch-Gladbach: Lübbe 2002 (BLT 92102) 471 S.

Die Insel als Gefängnis, als Ort des Eingeschlossenseins ist – für urlaubshungrige Touristen schwer vorstellbar – ein  klassisches Motiv der Literatur, auch in der mallorquinisch katalanischen. Und die geistige Unfreiheit als Merkmal der Insel, die ihre Bewohner zu Gefangenen ihrer säkularen Traditionen macht, ist als Topos kaum weniger verbreitet, im Werk von Carmen Riera gar ein rekurrentes Thema.

In ihrem 1994 erschienenen historischen Roman Dins el darrer blau Ins fernste Blau (auf deutsch zuerst 2000) – findet jenes fatale Ineinander von Enge und Intoleranz als ein Grundzug mallorquinischer Geschichte Ausdruck in der Darstellung der gescheiterten Flucht der Chuetas im Jahre 1688. Der historisch verbürgte Fluchtversuch dieser mallorquinischen Kryptojuden, getaufte Christen allemal, die sich aller Repressalien der Mehrheitsgesellschaft zum Trotz im Verborgenen weiter an Lebensart und Glauben der Väter klammern, endet nach jahrelanger Haft in den Folterkammern der Inquisition 1691 für alle Beteiligten aus dem Ghetto mit Enteignung, Haft und Tod, für viele auf dem Scheiterhaufen, für die Unbeugsamen bei lebendigen Leibe.

Dass aus solch sperrigem Thema ein spannender Roman mit beachtlichem Erkenntnisgewinn werden konnte, ist der virtuosen Erzählkunst der Autorin geschuldet, die Figaro bereits in dem Roman Der englische Sommer (2009) oder der Novelle Selbstsüchtige Liebe (1993) bewundert hat, ihr Geschick, die Abfolge von Zufällen im Nachhinein als Ausdruck tragischer Notwendigkeit erfahrbar zu machen.

Kleinigkeiten bringen auch hier den Stein ins Rollen, der sich zur Lawine auswächst, die alles unter sich begräbt: Die Neugier eines Kapitäns, dem seine geheimnisvolle Dame einen kostbaren Ring schenkt, weil sie ihn als Fluchthelfer auserkoren hat, die seelischen Nöte eines Juweliers, eines chueta, der keiner sein will und der die Herkunft dieses Rings missdeutet, sowie die Angst eines selbsternannten Rabbiners vor dessen Denunziation führen zur überhasteten Flucht und so ins kollektive Verderben dieser Bevölkerungsgruppe, die weder den damaligen Ansprüchen an die „Reinheit“ des Blutes noch der des Glaubens genügt. Dass diese Kette absurder Zufälle dennoch unausweichlich in die Katastrophe führt, ist mithin der historischen Konstellation geschuldet, den Mentalitäten, den Denkhaltungen der Zeitgenossen, ihrem religiösen Fanatismus, dem egoistischen Machtkampf der Eliten und dem opportunistischen Mitläufertum des Volkes.

Obwohl das Ende des Abenteuers vorhersehbar ist, bleibt der Weg dorthin unterhaltsam und aufschlussreich. 471 Seiten, ohne dass die Aufmerksamkeit bei der Lektüre erlahmt. Der rasche Wechsel der Erzählperspektive, die bald die Gruppe, bald einzelne ihrer Mitglieder, mal Opfer, mal Täter vor den Blick bringt, lässt Längen auch deshalb nicht aufkommen, weil jedes neue Bild den beklemmenden Gang in die Katastrophe immer rascher vorantreibt.

Dann mag es dem Leser am Ende vordergründig dabei ergehen wie dem Fremden aus Livorno, der unfreiwillig Zeuge des Autodafés in Ciutat de Mallorca geworden ist, obwohl er angereist war, das Unheil im letzten Moment noch abzuwenden:

„So gut er kann, versucht er mit Fäusten und Ellbogen seinen Platz zu verlassen. Er will nur noch weg. Sofort abreisen, weit, ganz weit weg, die Pinke soll gleich den Anker lichten und sich rasch dort draußen verlieren, weit draußen, im fernsten Blau.“ (S. 471)

Wer indes diesem Schlussbild noch eine Weile nachhängt, kann hinter Wut und Ekel ob des Geschehenen dank dieser Erzählkunst auch die tiefer liegenden, zeitlosen Ursachen dieses historischen Konflikts erkennen, das differenzierte Gemälde eines Machtgefüges, das immer neu und überall auf der Welt Progrome erzeugen könnte. Ein Gesprächsangebot an die Mallorquiner, die die Nachfahren dieser Unglückseligen noch über Jahrhunderte hin marginalisiert haben, gewiss, aber auch ein Plädoyer für Freiheit und Toleranz an alle, die es hören wollen, wo auch immer auf der Welt. 

- Die Kathedrale des Meeres -

Ildefonso Falcones

Historischer Roman

Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 7. Aufl. 2010, 652 S.

Der Welterfolg La catedral del mar aus dem Jahre 2006 des Katalanen Ildefonso Falcones gehört streng genommen als ein spanisch geschriebener Roman gar nicht in Figaros Leseecke der katalanischsprachigen Literatur. Eine freilich für die kulturelle Ambivalenz der Literatur Kataloniens oder auch der Balearen typische Situation: Nicht wenige – und keineswegs die unbedeutendsten – ihrer Schriftsteller wie Vázquez de Montalbán, Eduardo Mendoza oder Ruiz Zafón, publizier(t)en auf castellano, nicht auf catalán oder auch auf beiden wie Llorenç Villalonga oder Carme Riera – aus welchen Motiven auch immer. Und doch können ihre Werke unabhängig von der Sprache, in der sie verfasst sind, die DNA ihres geopolitischen Raumes tragen. 

Im vorliegenden Roman ist diese Zugehörigkeit unverkennbar: ein historischer Roman mit verborgener politischer Botschaft an das Barcelona unserer Tage, das sich als Hauptstadt einer Union für das Mittelmeer im Wartestand schon zu neuer Führung berufen fühlt, abgewandt von Kastilien und offen allenfalls für ein über Frankreich vermitteltes Europa. Angesiedelt auf dem Höhepunkt katalanisch-aragonesischer Machtentfaltung im westlichen Mittelmeer im 14. Jahrhundert legt die Geschichte über Aufstieg und (Beinahe-)Fall unseres Helden aus dem Volke auch die Schwachstellen offen, die den damaligen Abstieg Barcelonas in die Bedeutungslosigkeit besiegelten: die Überdehnung der Macht durch die Schuldenpolitik der Krone, das Versagen der ständischen Eliten, Adel, Klerus, Patrizier gleichermaßen, nicht zuletzt auch die ideologische Intoleranz im Namen einer Inquisition, die Werte fordert, wo sie Geld und Macht meint. Ein historischer Roman mithin mit Durchblick auf die eigene Gegenwart.

Und dabei ist ein Buch voller Zuversicht in die unerschöpfliche Kraft des Volkes, seine Ausdauer und Kreativität, entstanden, inszeniert in der Art eines Heldenepos, eines cantar de gesta in Prosa. Zwar steht hier kein Recke aus edlem Geschlecht im Mittelpunkt, sondern der Sohn eines schollenpflichtigen Bauern, aber mythisch überhöht als Träger einer wahren Botschaft erstrahlt auch er, hier einer Botschaft des Maßes und der Mitmenschlichkeit. Greifbar wird diese Überhöhung in Form eines Gleichklangs im Aufstieg zur Vollendung zwischen dem Helden und „seiner“ Kirche Santa María del Mar. Steigt doch die unbeugsame Hauptfigur in dem Maße vom Lastenträger zum Seekonsul auf wie die Kirche dank der Opferbereitschaft des Volkes als Emblem einer neuen Ordnung emporwächst. Selbst der lebensbedrohende Prozess vor dem Tribunal der Inquisition vermag unseren Mann aus dem Volke nicht zu brechen. Vielmehr findet er die ihm angemessene Rolle als selbstgenügsamer, gleichwohl wohlhabender und geachteter Kaufmann im Kreise seiner Familie.

Gewiss trägt ein solcher Lebensweg märchenhafte Züge. Aber dies liegt in der Natur des Heldenliedes. Anders als in der Tragödie sind die Prüfungen des Helden hier nicht auf Untergang, sondern auf Triumph hin angelegt, nicht auf Schuld und Sühne zielt die poetische Gerechtigkeit hier, sondern auf Erbauung und Glorifizierung. Eigene Fehler sind in dieser Logik leicht das Werk der Anderen: Das Abschlachten wehrloser Bauern im Krieg ist der Situation geschuldet (S.325), vom Sklavenhandel als Grundlage seines Reichtums darf unser Held nichts wissen (S.369)  und der Verrat an seiner Ziehtochter mag ihm Ausdruck seiner Gesetzestreue scheinen (465). Gattungsspezifische Entlastungsstrategien allemal, die nicht nur auf der Ebene der Geschichte, sondern auch auf der des Diskurses greifen: die Judenprogrome in Barcelona aus Anlass der Pest waren schlimm, gewiss, aber ungleich überschaubarer als anderswo in Europa, in Deutschland zumal (S.348), die Inquisitionsprozesse sind der reinste Horror, aber sie sind keine Erfindung der Katalanen (S.585) ...

Wer indes weiß, dass das Anliegen dieses als Heldenepos konzipierten historischen Romans nicht Vergangenheitsbewältigung ist, sondern Erbauung, weniger Analyse als Sinnstiftung, wird sich wie Figaro umso trefflicher unterhalten fühlen, als die Auswahl der drastischen Wechselfälle im Leben des Helden bei aller Verklärungsabsicht dennoch schonungslos den Blick auf  ein engmaschiges Netz  lebensfeindlicher usatges, eine hochgradig repressive soziale  Ordnung, ebenso freilegt wie auf die Abgründe der menschlichen Natur im Allgemeinen.

- Verdorrte Erde -

Antònia Vicens

Frankfurt a. M.: Valentia 2007

(Mallorca erzählt – Literatur der Balearen 8) 219 S.

Was für ein starkes Buch, wüst und wirr, voller Wut und Ekel, Einsamkeit und Tod, geschrieben aus der besten Tradition der europäischen Groteske und der desengaño-Literatur des spanischen Barock ...! Doch der Reihe nach!

Die Situation könnte trivialer nicht sein: eine junge Frau mit ihrer störrischen Tochter unterwegs zu einem nahegelegenen Strandhaus, wo ihr Liebhaber, der mögliche Vater ihres Kindes, und seine verhärmte Ehefrau einmal mehr ihren Besuch erwarten. Doch diesmal werden sie nicht mehr ankommen, weil eine niederdrückende Sonne ihr Vorwärtskommen vereitelt und die Wartenden, überrumpelt von ungebetenem Besuch, sich mit dem Tod konfrontiert finden. Warten und Weg im Zeichen der Vergeblichkeit aber verleihen diesem 1987 unter dem Titel Terra seca veröffentlichten Roman unverkennbar die Signatur der Postmoderne.

Trivial ist auch die der Situation unterlegte Geschichte: die verträumte junge Frau, die sich an einen älteren verheirateten Mann verliert und von dem sie auch in dessen Verfall nicht lassen kann. Dass dieser skrupellose Aufsteiger, der auch über Leichen geht, als korrupter Politiker, als Mafioso des Hotel- und Baugewerbes im Horizont einer durch und durch bäuerlichen Gesellschaft daherkommt, weist ihn überdies als Karikatur eines mallorquinischen Neureichen zu Zeiten von Diktatur und Transició aus.

Alles andere als trivial indes ist die Wucht, mit der die diese Geschichte tragenden Emotionen in Form von Erinnerungsfetzen an die Oberfläche dringen, spontan und unberechenbar, ungestüm und erschreckend, eruptiv wie Blitze oder stetig wie Ameisenschnüre aus den Spalten einer verdorrten Erde. Narrativ inszeniert werden sie aus wechselnden Standpunkten, auktorial, in erlebter Rede oder innerem Monolog, wobei Vergangenes und Gegenwärtiges als variierender Reigen des Immergleichen erscheinen. Wir kennen die Wirkung dieser aus dem nouveau roman und dem boom der lateinamerikanischen Romanciers bekannten Techniken. Den eiligen Leser halten sie auf Distanz, den geduldigen, den neugierig gewordenen machen sie süchtig, ziehen ihn, einem Strudel gleich, in immer verborgenere Schichten des Geschehenen hinab, wo unvermutet Erfahrungen eines tua res agitur ihn erwarten könnten.

Es sind erschreckende Bilder der Selbstwahrnehmung, Bilder der Ernüchterung und des Verfalls, die in bester barocker Manier jeden Fluchtweg als Selbstbetrug verstellen. Aufgefressen von ihren Ängsten und Enttäuschungen versinken die Protagonisten hier in ihren Erinnerungen, Fremde allemal, die am Trauma des Erlebten zu ersticken drohen, weil sie sich nicht mitteilen können. In einer Gesellschaft ohne Empathie – ob zwischen Mann und Frau oder Mutter und Kind gleichviel – hissen so Einsamkeit und Tod leicht ihr Banner, weil die Verarbeitung der Leiderfahrung nicht möglich scheint, zumindest öffentlich keinen Raum findet. Verdrängung macht krank, den Einzelnen wie die Gesellschaft – aller Boom-Verblendungen zum Trotz. Zugegeben: in einer solchen Lesart erscheint der Roman als visionäre Warnung an eine Gesellschaft, die 1987, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, im Zeichnen von Transición und EU-Beitritt in ganz Spanien noch von einer Erneuerung durch Verdrängung träumte.

Auf der Insel indes sind die sozialpathologischen Auswirkungen dieses Irrglaubens von besonderer Brisanz. Droht doch die Insel in solchem Klima leicht zur Falle zu werden, zum modrigen Verließ, wo traumatische Erinnerungen unter der verdorrten Erde – versiegelt wie unter einer Grabplatte – zu schwären beginnen. Doch lesen Sie selbst:

„Vielleicht hatte sie noch nie mit solcher Intensität wie heute die Kälte ihrer inneren Wüste gespürt, einer Art leerstehendes Haus, feucht, unbewohnbar. Ihr wird bewusst, dass sie es mit saudummen Träumen und falschen Betriebsamkeiten bevölkert hat, als ob die Möbel, die Dekoration die Frucht einer Verzauberung wären und gerade eben die Hexe mit ihrem zerstörerischen Besen vorbeigekommen wäre und alles-alles weggezaubert hätte, kein Bett als Liebeslager, kein Stuhl zum Ausruhen, kein Herd zum Feuermachen. Gefühl der Machtlosigkeit, der Begrenztheit des Lebens auf einer Insel, nicht einfach einen Zug besteigen können und den Kontinent zu durchfahren, andere Leute, andere Sitten. Das Haus voll bekommen.“ (S. 153)

Mallorca von innen gesehen. Welch ernüchternder Blick!

Und während Figaro diese Zeilen unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Lektüre niederschreibt, weiß er bereits, er wird diesen Roman der 1941 in Santanyí geborenen Autorin – eine Lektüre für Erwachsene – erneut lesen. Aber nicht sobald!

- Ein überreifes Herz -

Guillem Frontera

Roman aus dem Katalanischen von Axel Schönberger

Frankfurt a. M.: Valentia 2007

(Mallorca erzählt – Literatur der Balearen 4) 248 S.

 

Fast hätte Figaro auf eine Besprechung dieses 1993 in Barcelona unter dem Titel Un cor massa madur erschienenen Romans des Mallorquiners Guillem Frontera verzichtet, bevor sich ihm über das Verständnis der Erzähltechnik doch noch ein anregender Zugang erschloss. Zu irritierend schien ihm die schnöde Ichbezogenheit seiner Protagonisten aus der neuen Führungsschicht der Insel, jener Generation der Bauspekulanten und reichen Erben, die mit ihren Befindlichkeiten so provokativ abgehoben scheint von den sozialen Sorgen und Nöten gerade des heutigen Mallorca. Erst mit der Einsicht in die Parodiesignale dieser Liebesgeschichte wuchs auch das Verständnis und das Interesse an der Botschaft dieses neuartigen Romans. Denn fortan wurde ihm klar, dass genau diese Irritation gewollt war als Einstimmung für die hier anstehende Operation dieses auf der Insel allenthalben anzutreffenden Gemütszustandes, eine Operation gleichsam am offenen Herzen, ein letzter Weckruf für die selbsternannten Eliten des von „Tourismus und Zuwanderung“ (S.57) umgepflügten Mallorca.

Die Hellsichtigen unter diesen Privilegierten erkennen zwar wie unsere Protagonisten durchaus die Gefahr, dass Mallorca sie unmerklich „in sehr schöne Pflanzen verwandeln [könnte] oder in sehr wertvolle Fossilien“ (S. 234), aber sie finden dennoch nicht die Kraft, der richtigen Diagnose mit einer geeigneten Therapie entgegenzutreten, mit einer Therapie zukunftsorientierten, sozialverantwortlichen Handelns etwa. Dabei schien die kurze Zwischenphase ihres wieder gefundenen Glücks auf Es Clapers für unsere Protagonisten bereits die Heilung bereit zu halten (Kap. IX). Doch in dem Maße, wie sie in diesen Tagen utopischen Träumens ihre Pläne einer Modernisierung des ererbten Landgutes zur Anlage eines Swimmingpools verkümmern lassen, nur weil sie nicht bedingungslos zu ihren Gefühlen stehen – „Parasiten [ihrer] eigenen Liebe“ (S.124) gleich –, bleibt Mallorca einmal mehr das, als was es bereits Unamuno erschienen war, „ein schönes Land, um langsam zu altern.“ Und der Ausgang des Buches verheißt da auch keine Erlösung. Doch lesen Sie selbst:

„Weißt du, was ich gleich morgen tun werde?“, fragte sie mich. „Ich werde endlich beginnen, die Koffer und Pakete zu öffnen. Wirst du mir helfen?“

Nach Eintritt der Dunkelheit sank die Temperatur allmählich, aber ich erwartete einen Herbst mit einigen warmen Wochen. Vielleicht würden die Bäume uns eine verhaltene und feine Blüte bescheren, angesichts derer [unsere Verwalter] Madò Margalida und Amo en Miquel wiederholen würden, dass man noch nie die Kirsch- und Pflaumenbäume außerhalb ihrer Zeit blühen gesehen habe. Und dann der Winter (S. 247 f.).“

Den Schlüssel zu einer sozialkritischen Lesart dieser im Kern banalen Liebesgeschichte indes hielt bei Licht, d.h. bei wiederholter Lektüre besehen, bereits der Eingangssatz parat, dessen Aussage sich in der Folge wie ein Leitmotiv durch dieses Buch hindurch zieht: „Seit langem wusste ich, dass ich nie einen Roman verfassen würde." (S. 7) Eine erstaunliche Feststellung in einem Buch, das wie kaum ein anderes so mit den Ingredienzien eines Liebesromans gespickt ist. Angefangen mit der Lebenseinstellung unseres Protagonisten, der aus enttäuschter Liebe jedes neuerliche emotionale Engagement zu meiden sucht wie der Teufel das Weihwasser, eine in der Tat skurrile Art von Ataraxie, wie geschaffen für das indolente Rentnerdasein unseres Mittvierzigers. Passend zu diesem romanesken Lebensentwurf erscheinen die zentralen Ereignisse dann wie eine in der Literatur immer neu durchgespielte Probe aufs Exempel: die Wiederbegegnung mit seiner einstigen, inzwischen geschiedenen Jugendliebe und die Bekanntschaft mit deren verheirateter, aber nach kurzer Ehe bereits in Trennung lebender Tochter. Dass er mit seiner Einstellung gleich doppelt Schiffbruch erleidet, verwundert den Liebhaber von Romanen oder Fernsehfilmen weniger als die resignative Apathie, mit der er sich nach seinen jämmerlichen Niederlagen auch dann noch an seine Philosophie klammert, als diese längst schon zur sterilen Lebenslüge verkommen ist. Hätte er nicht wenigstens einmal zu seinen Gefühlen stehen können – wie im ‚richtigen’ Roman!

Freilich, einen Roman zu schreiben, hatte unser Ich-Erzähler ja gerade nicht im Sinn. Allerdings kann seine durchgängige Beteuerung, dass das, was ihm zustößt, kein Roman sei, in den Ohren eines Kenners von Literatur auch als versteckter Hinweis auf eine angestrebte Erneuerung der Gattung klingen, geradezu ein Parodiesignal einer neuerlichen Häutung in der langen Geschichte des Romans. Und wer wie Figaro diesem Verdacht nachspürt, erkennt bald schon die Merkmale eines solch neuen Typs, jenen Typ von Roman ohne Handlung in der von Flaubert einst begründeten Tradition. Es ist dies ein offener Typ anstelle des romantisch realistischen Illusionsromans, einer, in dem die Figuren nicht als Angebote zur Identifikation fungieren, sondern als Sprungbrett zur Reflexion, in dem der Erzähler zu sich selbst wie zur Welt der Erzählung auf kritische Distanz geht und so das Erzählte jederzeit auch Gegenstand wissenschaftlicher Analyse werden kann.

Was Wunder, wenn dann in unserem Roman die Erzählung immer wieder hinter dem soziologischen Diskurs oder dem journalistischen Essay zurücktritt. Dank einer derartig dramatisierten Anlage der Erzählung werden selbst im Spiegel einer ach so trivialen Liebesgeschichte die Ursachen für das Leiden der Insel hautnah im Alltag erfahr- und verstehbar: das Versagen parasitärer Eliten  wie der Defätismus der Gesellschaft gegenüber einer allgegenwärtigen Korruption. Keine erbauliche Unterhaltung mithin, aber eine Erfahrung, die sicherlich auch eine wiederholte Lektüre wert war!  

- Die Stadt der wehrlosen Spione -

Rosa Planas

Roman aus dem Katalanischen von Axel Schönberger

Frankfurt a. M.: Valentia 2007

(Mallorca erzählt – Literatur der Balearen 7) 524 S.

 

Ein ausgesprochener Fan von Spionage- oder auch – horribile dictu – Science-Fiction-Fantasy-Romanen ist Figaro nicht gerade. Dennoch hat er den vorliegenden Roman, der beides hat, Spione und eine Wunderdroge, mit Genuss und Gewinn gelesen, ungeachtet einer eher sorglosen Redaktion und der stellenweise holprigen Übersetzung des Textes. Der ironischen Grundanlage der Erzählung sei dank, denn sie lässt Luft zum Schmunzeln und Nachdenken ohne dabei – und das ist großes erzählerisches Vermögen – punktuell an Spannung einzubüßen.

Schon der Titel La Ciutat dels espies indefensosDie Stadt der wehrlosen Spione gibt ein solches Signal ironischer Distanznahme aus. Was könnte in der Tat quijotesker sein als die Vorstellung eines Jägers, der zum Gejagten wird, eines Spions als Bittstellers des Gesuchten (oder eines Experimentleiters, dem als Getriebener seiner eigenen Nachstellungen sein Untersuchungsgegenstand durch spontane Selbstverbrennung abhanden kommt).

Dabei spielen hier die Ereignisse einerseits in Palma, auf der größten Baleareninsel, die „sich im Laufe der Zeit in ein Lager von Flüchtlingen verwandelt hatte, Spionen im Ruhestand, die fast zwangsläufig außer Dienst gestellt waren“ (S.52), gleichsam an der Peripherie der Weltbühne, und andererseits parallel dazu in Berkeley Kalifornien, im  wissenschaftlichen Zentrum der Welt. Und obwohl einst alles im Zentrum seinen Ausgang genommen hatte, die Hippiebewegung ebenso wie die Wunderdroge Promise, so gehen die Impulse der Handlung diesmal mehr von der Peripherie in Palma aus. Dort ist nicht nur der Erfinder der Droge untergetaucht, der mit seinem Wissen um deren Gefahren sie vielleicht noch entschärfen könnte, sondern dort sorgt auch inzwischen der Vertrieb von Promise wegen seiner todbringenden Nebenwirkung vor allem in den Milieus für Unruhe, wo das Versprechen von ewiger Jugend und grenzenloser Leistungssteigerung auf  fruchtbaren Boden fällt, im Sport und unter den „gelangweilten“ Rentnern aus dem Norden Europas (S.15), die nicht selten ihren unerfüllten Hippieträumen nachhängen. Vordergründig hat die von der wachsenden Kommerzialisierung der Droge ausgelöste Suche nach dem untergetauchten prominenten Hippie zwar Erfolg, aber gelöst scheint damit am Ende gar nichts.

Ein typischer Ausgang der New Wave Fantasy: Der Vorgang zu, und alle Fragen offen. Was wird aus den Protagonisten, aus Bastian, dem Spion aus Holland, der auf Mallorca sein Glück nicht hat festhalten können, und aus Turijew, dem marxistischen Psychologen aus Rußland, der in Berkeley vergeblich dem Traum von einer freien Wissenschaft nachhängt; was wird aus der todbringenden Droge, die Glück ohne Ende verheißt, was schließlich aus Mallorca, jenem von den Zentren der Welt um  Lichtjahre entfernten Eiland, das sich zum Biotop für ergraute Glückssucher aus dem Norden Europas entwickelt zu haben scheint? Es bleiben offene Fragen, vor die uns die ironische Distanz des Erzählers stellt, gleichsam unser Blick ins Dunkle, an den uns die dystopische Literatur eines Philip K. Dick oder Aldous Huxley auch gewöhnt hat. Wer ihn aushält, gewinnt einen neuen Blick auf die Welt, hier in Sonderheit auf Mallorcas Biotope, etwa auf das „Nest umherirrender Ausländer“ (S.156), „im Dauerzustand der Muße“ (S.237), „vaterlandslos und mit einem gewissen Rheuma im Gehirn“ (S.161). – Die Stadt der wehrlosen Spione wurde gewiss nicht für die residentes aus dem Norden geschrieben, aber gerade sie könnten Gefallen an diesem Roman finden, so sie denn selbstkritisch genug sind.

 - Auf Wiedersehen im Himmel -

Pau Faner

 Roman aus dem Katalanischen von Volker Glab

Frankfurt a. M.: Valentia 2007

(Mallorca erzählt – Literatur der Balearen 2) 154 S.

Romananfänge, die wie eine Ouvertüre des Romanganzen klingen, haben es Figaro von jeher angetan: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha oder Cien años de soledad, um nur diese beiden zu nennen. Bei Fins al cel, dem mit dem angesehenen Josep Pla Preis ausgezeichneten Roman des Menorquiners Pau Faner aus dem Jahre 1997 und der seit 2007 in der ansprechenden Übersetzung von Volker Glab unter dem Titel Auf Wiedersehen im Himmel dem deutschsprachigen Leser zugänglich ist, stellte sich ihm bei der Lektüre der ersten Zeilen diese freudige Erwartung erneut ein:

„Man schrieb das Jahr des Herrn 1800. Camprubí, der damals schon dreißig Jahre alt war und noch nicht mit einer Frau geschlafen hatte, kehrte gerade vom Schweinefüttern zurück. Unterwegs trällerte er die Marseillaise, die ein paar Jahre zuvor populär geworden war. Camprubí war ein derber, dicker Mann, der noch nie aus dem Dorf herausgekommen war und nur eben aus den Worten des Pfarrers wusste, dass er auf einer Insel namens Mallorca lebte und dass es jenseits des Meeres noch andere Inseln gab.“ (S.5)

In diesen Zeilen entsteht eine Figur mit dem Zeug zum Stammvater einer robusten Sippe im milden Gegenlicht der Ironie des Erzählers. Anhand konkreter sinnfälliger Details schafft diese Ironie Distanz zum Nachdenken über die Natur einer Gesellschaft, die solches Verhalten generiert. Sie erst bringt die beängstigende Kontinuität des Lebens zur Ansicht, eines Lebens im Banne der immergleichen Dämonen von Sexualität oder Geldgier auf einer Insel im Mittelmeer, gleichsam an der Peripherie des Weltgeschehens und des Fortschritts. Eindreiviertel Jahrhunderte Einsamkeit in Europa im Zeichen theokratischer Bevormundung und pseudokolonialer Fremdbestimmung – zwischen dem Ende des Alten Reiches und dem Todesjahr Francos – so oder ähnlich klingt daher für Figaro, der sich auf diese Art von Ironie versteht, der verborgene Diskurs dieser vordergründig oft heiteren Familiengeschichten.

Welch erschreckende kulturelle Stagnation in der Tat, die hier – in Cuitadella auf Menorca – hinter der prallen Fülle der Ereignisse einer Familiensaga zwischen 1800 und 1975 in diesem ironischen Gegenlicht der Erzählung zur Ansicht kommt! Ob die Männer dieser Sippe verlottert und faul oder unternehmerisch und erfolgreich daherkommen, ihr Horizont ist immer derselbe, skrupellos, ohne soziale Verantwortung und kulturelle Perspektive, eine Parade ohnmächtiger eitler Gockel. Hoffnung, sie aus der selbstverschuldeten Misere zu befreien, erwarten sie einzig von der verführerischen Traumgestalt einer schönen Maurin. Ihr folgen sie bereitwillig, ob ihr Lächeln sie Generation um Generation immer neu vom Regen in die Traufe führt – etwa von Mallorca nach Menorca gleich zu Beginn – oder schnurstracks in den Tod, gleichviel. Sie werden aus Schaden nicht klug. Erst mit dem Tod Francos scheint auch das Verführungspotential dieser schönen Maurin erschöpft. Denn fortan „konnte niemand mehr die Männer der Familie Camprubí verführen“ (S. 153). Endlich doch noch ein Silberstreif am Horizont? Wer die Botschaft hört, der möchte es den Camprubíes dieser Insel wünschen.

Eine kurzweilige Lektüre, fürwahr, unterhaltsam und lehrreich in eins. Für Figaro ist dieses Lesevergnügen nicht zuletzt der erzählerischen Virtuosität geschuldet. Ein realistischer Roman, der auf das markante Detail setzt, nicht auf Beschreibungsorgien, mal schockierend im Stile des tremendismo eines Camilo José Cela, mal verstörend wie im magischen Realismus der Autoren des Boom, will ihm dieses Werk durchaus als Zeichen kultureller Kreativität erscheinen: ein Roman eigener Prägung, entstanden im offenen Dialog mit dem Fremden. 

- Die Stadt der Wunder -

Eduardo Mendoza

 Roman aus dem Spanischen von Peter Schwaar

Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2007 (st 3925) 503 S.

 

Diese Ausnahme muss sein! Wenn schon die Jury des Premi Nacional de Cultura de la Generalitat de Catalunya, die in der Vergangenheit exklusiv auf das Katalanische als Auswahlkriterium setzte, am 6. Juli 2013 über ihren Schatten springt und Eduardo Mendoza als ersten spanischschreibenden Schriftsteller Kataloniens auszeichnet, dann sollte er auch in  Figaros Leseecke einen Platz finden können, obwohl diese gerade die oft unterschätzte katalanischsprachige Literatur einer deutschen Leserschaft näher bringen will.

Als Zeichen dafür, dass die kulturelle Identität eines Raumes auch in Figaros Augen nicht allein an seiner Sprache hängt und nicht zuletzt stellvertretend für die vielen europaweit bekannten Namen, die allein auf Grund der Sprache, in der sie publizieren, hier noch nicht vorgestellt wurden, - die Manuel Vázquez Montalbán oder Juan Goytisolo, die Juan Marsé oder Ana Maria Matute, die Carlos Ruiz Zafón oder Javier Cercas ... – sei die Aufnahme von Eduardo Mendoza an dieser Stelle gestattet, obwohl dieser neben einer umfangreichen Produktion als Romancier und Essayist im Spanischen auf Katalanisch bisher nur das Theaterstück Restauració vorzuweisen hat.

Die Auswahl fällt naturgemäß bei einem so erfolgreichen Autor nicht leicht. Katzenkrieg (2012) – Riña de gatos. Madrid 1936 – böte sich an: Der Roman ist sozusagen fast noch druckfrisch, 2010 mit dem Planeta ausgezeichnet, dem  nach dem Nobelpreis mit 601000 (!) Euro höchstdotierten Preis für Literatur und, was noch wichtiger ist, durchaus repräsentativ für den burlesken Humor des Autors. Dennoch ist die Wahl auf  La ciudad de los prodigios gefallen, einem Roman aus dem Jahre 1986, der auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erstmals 1989 unter dem Titel Die Stadt der Wunder erschienen ist und dort nun in einer neuen Ausgabe in der Übersetzung von Peter Schwaar seit 2007 als Taschenbuch vorliegt. Dieses Werk hat den Ruhm des 1943 in Barcelona geborenen Autors nachhaltig begründet, ist darüber hinaus inzwischen zum Symbol für die Erneuerung des Romans in Katalonien avanciert und hat doch an Aktualität nichts eingebüßt. Mit Barcelona als Schauplatz und Protagonist führt Die Stadt der Wunder  zudem direkt in die Herzkammer der Kultur Kataloniens.

Im Mittelpunkt der Handlung steht das Leben eines Mannes aus dem Volke, der mutig, weitsichtig und skrupellos vom ärmlichen Knaben aus einem namenlosen Dorf über viele, von den Verhältnissen diktierte Stationen – vom Laufburschen für die Anarchisten über den gefürchteten Mafioso der Metropole, den erfolgreichen Kaufmann, hemdsärmeligen Filmproduzenten und traumwandlerischen Diamantenhändler –  zum reichsten und mächtigsten Mann des Landes aufsteigt. Parallel zu diesem fulminanten Aufstieg verlaufen die Häutungen der Stadt Barcelona, die sich wegen der Vorbereitung der ersten Weltausstellung auf spanischem Boden 1888 „im Zustand fieberhafter Erneuerung“ (S. 9) befindet, als Onofre Bovila dort Fuß zu fassen versucht. Was für den Halbwüchsigen zum Sprungbrett einer abenteuerlichen Karriere wird, markiert für die Stadt den kaum weniger atemberaubenden Aufbruch in die Moderne, voller Brüche und Verwerfungen im Zeichen des Modernisme, des ökonomischen Booms dank des ersten Weltkriegs in Europa und der anschließenden Diktatur Primo de Riveras. Zum Ende kommt diese doppelte Bewegung auf der zweiten Weltausstellung in der Stadt im Jahre 1928. Denn der spektakuläre Absturz Bovilas an Bord eines von ihm selbst in Auftrag gegebenen neuartigen Flugobjektes ins Meer vor den Augen des erwartungsvollen Publikums, das sich zur Eröffnungsfeier auf dem Gelände des Montjuic drängt, hat indirekt die Destabilisierung der damaligen politischen Eliten im Gefolge: die Weltausstellung wird zum Flop, der Bürgermeister verliert sein Amt, der Diktator dankt ab und die Tage des Königs sind ebenfalls gezählt.

Ein auktorialer Erzähler, dessen Gegenwart bisweilen absolut ist, spannt die beiden Kurven, die des Protagonisten und die des Schauplatzes, zu einer einzigen Fieberkurve zusammen, gleichsam zum ironischen Miteinander von Biographie und Chronik. Die Selbsteinschätzung in der Rückschau des Protagonisten jedenfalls scheint diese Lesart zu bestätigen:

„Wenn ich von diesen Dingen spreche, dann nur, weil ich dem Tod ins Auge geschaut habe und weil ich Angst habe. (...) Nicht meine Taten werfen sie (meine Zeitgenossen) mir vor, nicht meinen Ehrgeiz oder die Mittel, deren ich mich bedient habe, um ihn zu befriedigen, um hochzukommen und mich zu bereichern – das wollen wir alle, und sie hätten genau gleich gehandelt, wenn sie die Not dazu getrieben beziehungsweise die Angst nicht davon abgehalten hätte. In Wirklichkeit bin ich es, der verloren hat. Ich glaubte, wenn ich schlecht wäre, hätte ich die Welt in den Händen, doch ich habe mich geirrt: die Welt ist schlechter als ich.“ (S. 438)  

Dank dieser doppelgleisig inszenierten  Erneuerungen von Protagonist und Stadt erscheint die Hauptfigur gleichsam als burlesker Spiegel der Stadtentwicklung, als Repräsentant des grenzenlosen Ehrgeizes der Katalanen, Ausdruck eines frustrierten Strebens nach Anerkennung, einem Streben allerdings, dem in beiden Fällen die Anerkennung versagt bleibt. Wie die traditionellen Eliten der Stadt den reichen Onofre Bovila, der sie doch so generös finanziert, lediglich am Katzentisch ihrer repräsentativen Feste platzieren, so bleibt das reiche und unbändige Barcelona in den Augen der politischen Eliten in Madrid allenfalls der ungeliebte Zahlmeister. Und das mit komplizenhafter Duldung der Großbürger Kataloniens, „vielleicht weil sie sich im Grunde immer als eine Welt für sich betrachtet hatten, losgelöst vom Rest Spaniens, den sie trotzdem nicht entbehren mochten oder konnten oder den man sie nicht übergehen ließ.“ (S.297)

Das so durchgängig entstehende ironische Gegenlicht verändert freilich die Tonlage der Erzählung, lässt diesen historischen Roman als seine eigene Parodie erscheinen, in dem die Muster unterschiedlicher Gattungen sich paaren können, um geradezu postmodern die Legitimationskrise des Staates und seiner Institutionen mit beißendem Humor in ein groteskes Licht zu rücken. So verschmelzen etwa in der Figur des Protagonisten die Handlungsmuster des klassischen realistischen Romans mit denen des Schelmenromans, um die skandalösen Schwachstellen der Gesellschaft schlaglichtartig zu entlarven: der Streber aus der Provinz, der die Großstadt als Trampolin seines Aufstiegs begreift und der pícaro, der Gauner, der als Diener vieler Herren die unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft mit den Augen eines hungrigen Wolfes durchstreift.

In der Verbindung zweier solcher Perspektiven entsteht ein ironisches Zwielicht, das die Gesellschaft nicht als Widerpart des Helden adelt, sondern sie in ihren Eliten als absurdes, selbstgefälliges Monstrum bloßstellt: die Richter – „(sie) schätzten das Recht keineswegs gering, wandten es aber auf ihre Weise an: ohne große Umstände.“  (S. 150) – die Bürgermeister – „(...) er war Alkoholiker und verbrachte pro Tag bloß zwei bis drei Stunden in einem Zustand relativer Klarheit; in dieser Zeitspanne erledigte er seine Bürgermeisterobliegenheiten durchtrieben und unredlich.“ (.411) – oder auch die Reichen, die sich im Horizont allgegenwärtiger Ausbeutung geradezu skandalös ihrer Prunksucht ergeben – „ Die Frauen musste man fast herunterhieven und ihre Roben waren so lang, daß die Schleppen immer noch aus den Fiakern rauschten, wenn sie selbst schon lang in der Glastür verschwunden waren, so daß man hätte glauben können, ein Reptil besuche die Oper.“ (S. 124) Vom Führungspersonal in der Politik – König, Diktator, Minister, Diplomaten – gleich ganz zu schweigen! Keiner zeigt sich seinem Amt auch nur im Ansatz gewachsen  und die Opposition im Untergrund wohl auch nicht: „(...) die Anführer der subversiven Bewegungen liefen durch die Kanalisation auf der Suche nach Unterstützung; auf den Schnittpunkten zweier stinkender Kanäle kreuzten sich die Anarchisten, Sozialisten und Katalanisten, erkannten sich im grünlichen Licht ihrer Lämpchen, grüßten sich lakonisch und eilten weiter.“ (S. 404)

Hohe Zeiten für Glücksritter vom Schlage eines Onofre Bovila – damals wie heute. Die Stadt der Wunder ist in der Tat ein ironischer Titel, kein Loblied auf Barcelona und paradoxerweise doch eine verdeckte Hommage an die Dynamik dieser Stadt.

- Càmfora -

 Maria Barbal

Roman aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum

und mit einem Nachwort von Pere Joan Tous

Berlin: Transit Buchverlag 2011, 240 S.

 

Der jetzt auf Deutsch unter dem katalanischen Originaltitel Càmfora vorgelegte Roman war zuvor bereits in der ebenfalls von Heike Nottebaum besorgten Übersetzung unter dem Titel Ein Brief aus der Ferne  im Handel. Die Titelkorrektur in der deutschsprachigen Übersetzung dieses erstmals 1992 auf Katalanisch erschienenen Romans macht freilich Sinn. Denn sie gibt dem Ende des Romans seine faszinierende Offenheit zurück, die der zur Titelerwartung hochstilisierte „Brief (des Geliebten) aus der Ferne“ unzulässig einzuengen drohte.

Schließlich ist die kurze außereheliche Beziehung der weiblichen Protagonistin Palmira nur eine Episode in dem tiefgreifenderen Prozess ihrer Selbstfindung als Frau, der mit ihrem Umzug im Schlepptau von Ehemann und Schwiegervater aus einem kleinen Bergdorf in den Pyrenäen nach Barcelona einhergeht. Selbst das Angebot ihres einstigen Geliebten zu einem gemeinsamen Leben aus dem fernen Caracas schlägt die inzwischen verwitwete Palmira im Gefühl ihrer neu gewonnenen Eigenständigkeit aus:

„Und bevor sie ein Lebewohl unter den Brief setzte, schrieb sie Josep doch noch ein paar Worte über diesen Herbst in Barcelona, der so sonnig war und so mild.“ (S.232)

Mit dieser stillen Huldigung an ihren neuen Lebensraum endet der Roman. Sie orchestriert gleichsam die gesellschaftliche Dimension ihrer Selbstfindung. Denn erst hier in der Metropole, in dem wirtschaftlich aufblühenden Barcelona der 60er Jahre, das die Fesseln des Frankismus nicht zuletzt unter dem Druck einer beispiellosen Landflucht zu sprengen beginnt, kann die lebenstüchtige Frau und Mutter der doppelten männlichen Bevormundung Schritt für Schritt entwachsen, kann sie sich den Freiraum für ihr wenn auch noch so bescheidenes Glück erarbeiten, das nicht zuletzt ihrer Tochter einmal eine bessere Zukunft zu versprechen scheint.

Ein solch offener Horizont ist in der Tat unvorstellbar in der archaischen Welt der Raurills, der Familie, in die Palmira verheiratet wurde. Kein Wunder also, dass ihre beiden Männer bald schon frustriert aus der Großstadt flüchten, aus verletztem männlichem Stolz der Schwiegervater Leandre, aus Orientierungslosigkeit der Ehemann Maurici, ein jeder auf seine Weise entwurzelt und auf der Suche nach der verlorenen patriarchalischen Geborgenheit ihres Bergdorfes, das uns gleich zu Beginn des Romans vorgestellt wird:

„Im Winter ist es kurz nach sechs schon dunkel. Die Gassen im Dorf, bitterkalt und nur spärlich beleuchtet, wirken nicht sehr einladend. (...) Auf diese Weise, wie wenn Wasser tropfen- oder schlückchenweise aufgefangen wird, finden sich dort (in der Dorfkneipe) gut zwei Dutzend Männer ein. Vielleicht wollen sie sich einfach ein wenig die Zeit vertreiben, während daheim die Frauen oder Kinder die Kühe melken. Und wenn sie dann nach Hause kommen, erwarten sie, dass das Abendessen auf dem Tisch steht. Vielleicht hocken sie aber auch bei Xau, weil sie sich von den schmutzig grauen, abgegriffenen Karten angezogen fühlen und von dem Wein, der in kleinen Gläsern ausgeschenkt wird.“ (S.8)

In der stickigen Enge des dörflichen Katalonien scheint die Zeit in der Tat still zu stehen, drücken ererbte Lebensgewohnheiten bleischwer auf den Horizont der Menschen und halten so unabweislich wie der Kampfergeruch von Mottenkugeln das Vergangene als Orientierungsnorm wach. Entlastung von dem oft grausam despotischen Erbe von Generationen ist hier nicht in Sicht, Aufbegehren nur als Verzweiflungstat vorstellbar. So wie die Brandstiftung Sabinas, die nach jahrelangen Demütigungen durch ihren Vater Leandre, der sie hohnlachend schänden und enterben konnte, aus ohnmächtiger Wut nachts das verwaiste Haus ihres Vaters anzündet und dabei ohne es zu ahnen ihren Sohn und Halbbruder Maurici, der sich dorthin unbemerkt in seine Erinnerungen verkrochen hatte, mit verbrennt. Veränderung bringt aber selbst diese Wahnsinnstat dem Dorf nicht. Denn nach kurzer Hektik kehren alle zur alten lebensfeindlichen Ordnung zurück. Daher ist Càmfora als Titelmetapher der Titeloption Ein Brief aus der Ferne auch vorzuziehen. Bringt sie doch neben dem offenen Ende auch die gesellschaftliche Dimension dieses zeitkritischen Familienromans weit besser zum Ausdruck: die unendliche Mühsal dieses zähen Prozesses der Selbstbefreiung aus den ranzigen Vorstellungen einer patriarchalischen Welt, die selbst im Horizont einer dramatischen Landflucht nicht abdanken will.

Dieses Grundthema des Romans, dieser in der Tiefe ablaufende revolutionäre Wandel der Lebensgewohnheiten, kommt nicht programmatisch laut daher, sondern unmerklich leise im Grau-Alltäglichen. Selbst die an sich spektakulären Ereignisse der Handlung – der Missbrauch der Tochter, der Ehebruch Palmiras, die Brandstiftung – bleiben zunächst abgedunkelt, bis sie über ein Geflecht von Anspielungen nach und nach erst, dann aber  in ihrer ganzen gesellschaftlichen Komplexität und Tragweite erkennbar werden. Dank dieser Technik solch narrativer Ellipsen, sowie der plurifokalen, von Person zu Person wandernden Erzählperspektive und einer raschen, der telenovela abgeschauten Schnittfolge, welche die Figur im Netzwerk ihrer sozialen Bande inszeniert, öffnet sich der Unterhaltungsroman zum gesellschaftlichen Archiv, zum Erinnerungsort an das alte, zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans bereits untergegangene Katalonien.

Ausgerechnet das Erscheinungsjahr 1992 war gewiss eine provokante Einladung zum Verweilen an ihre Landsleute, die im Glanz der Weltausstellung in Sevilla, der Olympischen Spiele in Barcelona und der 500 Jahrfeiern der Entdeckung Amerikas überall im Lande den Beginn einer neuen Zeit feierten, die Rückkehr Spaniens auf die Weltbühne. Sie hat auch heute im Horizont der hektischen Öffentlichkeit der Massenmedien nicht an Irritation eingebüßt. Wer die Einladung dieser begnadeten Schriftstellerin indes annimmt, wird reich belohnt. Er begibt sich nicht nur auf eine Entdeckungsreise besonderer Art, sondern wird auch nach wenigen Seiten schon der wohltuenden Wirkung ihrer Erzählweise zur Entschleunigung gewahr und kann sich dann dem Zauber ihrer Sprache überlassen.

Einige wenige Beispiele nur seien uns vergönnt. So können die Leser die lastende Langeweile des entthronten Dorfpatriarchen in der Großstadt, die würgende Beklemmung des durch den Umzug in die Stadt entwurzelten Erben des väterlichen Hofes oder die störrische Unerschrockenheit der immer mehr auf eigenen Füßen stehenden Ehefrau und Mutter in ebenso einfachen wie einprägsamen Sprachbildern geradezu  sinnlich nachempfinden. Hören wir einen Moment hinein:

„Auf seinen Spaziergängen nimmt er (Leandre) vor allem die Kneipen in Augenschein. Oftmals hängt ein mit grellen Farben bemaltes Blechschild über, neben oder mitten auf der Tür. Coca-Cola. Er wirft einen Blick hinein und sagt sich, das hier bestimmt gezockt wird. Die Karten bringen ihn auf andere Gedanken, wenn er spielt, vergeht die Zeit wie im Flug, all die viele Zeit, von der er nicht weiß, wie er sie totschlagen soll und die zuweilen so schwer wiegt wie ein mit Getreidesäcken überladener Karren.“ (S.22)

„Plötzlich war es völlig dunkel um Maurici herum, seine Ohren dröhnten, und im selben Moment überkam ihn das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Doch dann leuchtete das spärliche Licht einer Glühbirne auf, und die Dinge kehrten mehr oder weniger an ihren Platz zurück. Aber irgendwie war da immer noch dieses beklemmende Gefühl, das sich um seinen Hals schlang wie die Weinrebe um ein Spalier.“ (S.40)

„Palmira lauschte seinen (anklagenden) Worten wie einem auf das Vordach prasselnden Regenschauer im Sommer, von dem man gleich weiß, dass er weiter nichts als ein paar Staubkörner auf der Straße aufwirbelt, aber kein einziger Tropfen davon bis unters Dach spritzen wird. Sie hörte ihn reden, und war innerlich doch weit entfernt, zu sehr hatte er in der letzten Zeit ihre Selbstachtung mit Füßen getreten, es war, als würde in der vertrauten Gestalt ein Fremder zu ihr sprechen.“ (S.84)

Beispiele wie diese vermitteln einen Eindruck von der zielgerichteten Sprachgewalt, mit der uns Maria Barbal auf eine Entdeckungsreise durch das archaische Katalonien führt, eine Odyssee, die mit dem Roman Wie ein Stein im Geröll ihren Anfang genommen hatte, um über Stationen wie Inneres Land oder Emma nunmehr mit Càmfora einen weiteren glanzvollen Höhepunkt zu erreichen. Aber wo wir auch verweilen, es lohnt sich immer.

 

- Enge Straße -

Josep Pla

Roman aus der katalanischen Provinz,

aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt

Zürich: Ammann Verlag 2007, 283 S.

Josep Pla ist für Figaro, den Liebhaber von Romanen, eine Entdeckung besonderer Art. Denn Josep Pla erweist sich hier als Meister in der Zeichnung der „Geringfügigkeiten“ des Alltags (S. 44), ein Zeichner des Grau-Alltäglichen ohne die angestrengte Suche nach dem Auffälligen und Sonderbaren, also ohne den Stoff, aus dem Fiktionen meistens sind.

Daher ist der Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe von El Carrer Estret „Roman aus der katalanischen Provinz“ auch eher irreführend. Schließlich erwartet uns hier keine Geschichte, sondern eine Abfolge von Episoden, keine Handlungsträger, sondern Mitbewohner des kleinen Dorfes Torelles, aus dem es nichts Auffälliges zu berichten gibt. „Das Leben in Torelles ist sehr grau, es gibt keinerlei Abwechslung, keine Höhen und Tiefen.“ (S. 124) – wie der Ich-Erzähler aus eigener Anschauung weiß. Und gerade diese Ereignislosigkeit, das Fehlen der „großen Dinge“, hinter denen „absolut nichts steckt“ (S. 44) lässt ihn gleichsam als Chronist des Alltäglichen zur Feder greifen.

Das Ergebnis des 1953 im Original erschienen Buches sind detailgetreue Bilder des Dorflebens in Katalonien um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zusammengehalten durch den Ort, genauer gesagt die enge Dorfstraße und die beiden Beobachter des dörflichen Alltags, den Ich-Erzähler und seine Haushälterin. Ein in seiner Unterschiedlichkeit latent komisches Kontrastpaar: der junge, unerfahrene und eher wortkarge Tierarzt aus Barcelona und seine alteingesessene, neugierige und lustvoll tratschende Francisqueta, amüsiert distanziert der Erzähler, leidenschaftlich involviert die Kochhilfe.

Bei dieser Anlage wird klar: dieses Buch will nicht in einem Zug verschlungen werden, bietet es doch keinerlei Ob-überhaupt-Spannung. Es lädt aber zum Verweilen ein,  zum wiederholten Lesen jedes einzelnen seiner 41 Kapitel, jedenfalls den, der sich wie Figaro dem Reiz der diskreteren Wie-Spannung überlässt. Mit der Frage: "Wie erscheint in diesem doppelten Spiegel das graue, ereignisarme Dorfleben? Wie werden all diese „Geringfügigkeiten“ in Szene gesetzt, so dass sie uns ansprechen und in Erinnerung bleiben?" glaubt Figaro einen Schlüssel zum Verständnis des Buches in Händen zu halten, den ihm die Vorstellung von Roman eher verstellt hätte.

Was Figaro als harmonisches Gemälde in seiner Belanglosigkeit sicher langweilen würde, kann als offenes Archiv minutiöser Skizzen des dörflichen Alltags durchaus seine Neugier erregen, ihn anhalten, genauer hinzuschauen. Und in Enge Straße wird solche Neugier in der Tat reich belohnt. Denn hinter der erwarteten Idylle erscheint überraschend eine lieblose Welt unsolidarischer Vereinzelung, leuchten realistische Schlaglichter des Ungeselligen auf  - und zwar  durchgängig, gleichsam als Grundzug dörflichen Lebens. Ob in der Familie oder in der Ehe, selbst beim Liebeswerben, ob bei der Arbeit oder in der Freizeit, zwischen Gleichaltrigen oder  im Umgang der Generationen untereinander, immer wartet bei Licht besehen dieselbe ernüchternde Erfahrung.

Selbst der Stammtisch, der Ort, an dem doch eigentlich die Geselligkeit Programm ist, macht da keine Ausnahme. Ein ganzes Kapitel ist dieser überraschenden Erkenntnis gewidmet. Schauen wir einen Moment genauer hin:

„Der Stammtisch im Recreatiu war mir bald – eigentlich schon vom ersten Moment an – zuviel.

Dieser Stammtisch ist ein typisches Phänomen des Dorflebens: Da sitzen ein paar Herren zusammen, die alles wissen, die beängstigend klug sind und denen es genügt, einander zuzuzwinkern, um sich in einer Art geheimem Einverständnis über alles auszutauschen. Die Intelligenz dieser Herren ist Bauernschläue. (...)

(...)Jeder ist ein Schlauberger. Stets weiß jeder alles. Natürlich ist ein Dialog in einer solchen Gesellschaft unmöglich. Worüber sollten sich in Gottes Namen auch Leute unterhalten, die a priori alles wissen? Sie können sich über nichts unterhalten. Darum besteht fast unser gesamtes gesellschaftliches Leben darin, einander zuzuzwinkern.

(...)

Dies erklärt vielleicht ansatzweise, warum unser Leben so voller Einsamkeit ist, so voller störrischer Individualität. Unsere Einsamkeit ist derart unermesslich, derart stark, dass der Moment kommt, in dem wir nicht weiter nach Erklärungen für sie suchen und sie als naturgegeben hinnehmen. (...)

Wenn nun diese unsolidarischen Gemüter irgendwo zusammenkommen – zu einem Stammtisch, zum Beispiel –, ist ihre Bindung immer fragmentarisch, sporadisch, weil der einzige Zweck der Begegnung ist, sich einer Marotte hinzugeben“ – dem Kartenspielen, Briefmarkensammeln, einem gemütlichen Tratsch, gleichviel. (S. 219 ff.)

So ernst, so philosophisch wie in diesem Essay (Kap. 33) ist der Ton freilich nicht immer. Häufiger noch bringt der detailversessene Beobachter das Skurril – Alltägliche, das Groteske im Verhalten der Zeitgenossen oder in deren Erscheinungsbild zur Anschauung: die sporadische, aber umso leidenschaftlichere Liebe zur Schauspielkunst des ansonsten eher biederen Uhrmachers Massaguer (Kap. IX), die Sturheit, mit der die alte Marystany die eine kostbare Matratze der Familie für ihren jüngeren Sohn jedes Mal umbettet, wenn dieser mit seiner Frau zum Dorffest nach Hause zurückkommt (Kap. XV), die bevormundende Fürsorge des Frisörs, der sich besserwisserisch einen gesunden Backenzahn ziehen lässt, um seiner Frau die Angst vor dem Zahnarzt zu nehmen (Kap.), die verschämte Zähigkeit, mit der Senyora Riteta heimlich die Pferdeäpfel von der Straße für die Blumen in ihrem Hinterhof zusammenkehrt (Kap. 20) oder die Affenliebe, mit der Joan-wie-spät-es-ist seinen jungen Esel verhätschelt (Kap.23) sind nur einige Beispiele dieser Neugier unseres Erzählers.

Und angesichts dieser Beispiele wird klar: Ungeachtet der im Vorspann auch von Josep Pla bemühten Spiegelmetapher – Der Roman ist ein Spiegel, der eine Landstraße entlangspaziert – , die durch Stendhal Berühmtheit erlangt hat, weil sie dort das Aufblühen des realistischen Romans zu Beginn des 19. Jahrhunderts markiert, erinnert die Schreibart in Enge Straße weit eher an die Strategien der diesem Romantyp vorangegangenen Moralistik der Franzosen, an deren Essay-, Anekdoten- und Portraitsammlungen in der Absicht einer vorurteilsfreien Charakterisierung von Eigenheiten und Schwächen der menschlichen Natur. Und nicht selten beschließen hier wie dort Pointen, die gleichermaßen zum Schmunzeln einladen wie nachdenklich stimmen, die einzelnen Bilder – so wie im Falle des Ehepaares, das sich nach heftigem Streit entschließt, weiter zusammen zu leben, indem es getrennte Wege geht:

„Am darauffolgenden Sonntag ging Simoneta mit einer Freundin ins Kino. Joaquim verbrachte den Nachmittag kartenspielend im Café. Francisqueta meint, wenn der Herrgott den beiden Gesundheit schenkt, wird diese Ehe für den Rest ihres Lebens halten.“ (S.62)

Neben der die Bilder abschließenden Pointe verfolgt das groteske Portrait dieselbe Absicht nachdenklich amüsierter Distanznahme. Die affektierte, vertrocknete Jungfer Remei, die Nacht für Nacht im Traum von einen jungen Burschen in ihrem Schlafzimmer aufgesucht wird  und die dicke Kneipenwirtin, die stoisch auf die ausbleibenden Kunden wartet, mögen hier als Beispiele genügen.

„Senyoreta Remei ist etwa fünfundvierzig Jahre alt. Sie ist groß und hager, und ihre ausgedörrte Haut ist bleich, von einem hellen, erdigen Ton. Sie hat pechschwarzes, dichtes, lockiges Haar, eine schmale Nase und einen Mund mit dünnen, geraden, beinahe violetten Lippen. Ihre Zähne sind klein, spitz, aber glanzlos. Das Überraschendste an ihrem Gesicht sind die Augen: zwei große, runde, glänzend schwarze und erstaunlich unruhige Augen, die immer hin und her sehen, so dass man schon vom bloßen Zusehen müde wird. Über diesen flinken Augen wölben sich dichte Brauen und eine schmale, nervöse Stirn voller kleiner Falten, eine gealterte, erschöpfte Stirn. Senyoreta Remei trägt ein marineblaues, maßgeschneidertes Kleid und ein ziegelrotes seidenes Halstuch. Ungeachtet ihres Alters liegt in all ihren Worten und Gesten eine gewisse altmodische Koketterie.“ (S. 111 f.)

„Wenn ich auf der Straße an dem Lokal vorbeigehe, werfe ich manchmal einen Blick hinein. Der Anblick, der sich mir bietet, ist immer der gleiche: Ich sehe eine dicke, schwarzgekleidete Frau auf einem Stuhl sitzen, den Arm auf einen der hinteren Tische gestützt, die Wange in die Hand gelegt. Über dem dunklen Fleck des Kleides, das durch den roten Vorhang noch schwärzer wirkt, schimmert ein blonder Kopf mit blauen Augen und leicht öligen Speckfalten. Unter dem Kleid ragen zwei Beine hervor, prall wie Karnickelbäuche, die in schwarzen Pantoffeln enden. Diese Frau ist die Kneipenwirtin. Sie ist Witwe. In der fast ständigen Leere der trüben, einsamen Taverne sieht es aus, als ob sie träume. Stundenlang sitzt sie in der gleichen Position, den nackten Arm auf die Tischkante gestützt, den geneigten Hals hineingelegt, und von der Straße aus ist kaum zu erkennen, ob sie schläft oder wacht. Ein erloschenes Stimmengewirr scheint sie zu umschwirren – eine tote Taverne.“ (S. 162)

Es sind Portraits wie diese und amüsierte Pointen, nachdenkliche Essays und skurrile Anekdoten, die den Reiz dieses Buches ausmachen. Ein schier unausschöpfliches Panoptikum des Dorflebens im Katalonien des 20. Jahrhunderts, zumindest für den, der sich die Muße gönnt, sich dem Zauber einer Schreibart zu überlassen, die mit ihrer überbordenden Fülle realistischer Details gleichwohl pointiert die genuine Ungeselligkeit des Lebens auf dem Dorf und die generelle Nichtigkeit des Daseins vor Augen stellt, die ihn im Einerlei des dörflichen Alltags gelegentlich unvermittelt anspringt. Und vielleicht hält er es dann mit dem Erzähler, der in solchen Situationen grundsätzlich wird:

 „(...) manchmal, vor allem an den Abenden, an denen die Tramuntana kräftig weht, reagiere ich heftiger und frage mich mit einer gewissen inneren Empörung: Kannst du einfach so hinnehmen, zwischen diesen mechanistischsten Formen der Banalität, der Lächerlichkeit gestrandet zu sein? Muss sich das ganze Leben, das ein Mensch verströmt, tatsächlich auf diese Trägheit, diese tragische Passivität beschränken?“ (S. 101)

Welch willkommene, welch erholsame Lektüre diese nachdenklich leise Prosa von Josep Pla inmitten all der wichtigtuerischen Schaumschlägereien im Medien- und Kulturbetrieb unserer Tage!

Kein Zweifel: Enge Straße macht Lust auf mehr. Und wer wie  Figaro das 2007 in der Bibliothek Suhrkamp erschienene Graue Heft oder jenes andere Buch Der Untergang der Cala Galiota: Geschichten vom Meer, im selben Jahr bei Berenberg erschienen, gelesen hat, beginnt die Bedeutung dieses 1981 im Alter von 84 Jahren verstorbenen Schriftstellers und Journalisten für die Erneuerung der katalanischen Sprache und Kultur zu erahnen. Sie lässt sich für das deutschsprachige Lesepublikum angesichts des Gesamtumfangs seines Werkes von über 30000 Seiten in der Tat nur erahnen. Aber die ihm zugänglichen Titel reichen durchaus aus, zu verstehen, warum Josep Pla bis heute zu den beliebtesten Autoren der neueren katalanischen Literatur gehört.

- Die Stierhaut -

Salvador Espriu

Aus dem Katalanischen übertragen

von Fritz Vogelgsang

Frankfurt a.M.: Vervuert 1985, 156 S.

Die Begegnung mit diesem zweisprachigen Gedichtband verdankt Figaro, der ansonsten freiwillig nur selten zur Lyrik greift, eher dem Zufall. Das schmale Bändchen war seit Jahren beim Frühjahrsputz hinter einem Stapel spanischer Bücher wieder aufgetaucht und sah schon reichlich vergilbt aus, als er es in die Hand nahm. Doch der suggestive Titel weckte seine Neugier. Und sie wurde nicht enttäuscht.

El brau, en l’arena de Sepharad, / envestia l’estesa pell / i en fa, enlairant-la, bandera.
 

Was für eine fulminante Eröffnung, welch provokantes Bild über den Zustand des Landes gleich zu Beginn!

 

Der Stier, in der Arena Sepharads,

griff die ausgebreitete Haut an,

und emporschleudernd, macht er sie zur Fahne.

Gegen den Wind gehißt, ist diese Stierhaut,

die Haut des blutbedeckten Stiers,

jetzt ein vom Gold der Sonne aufgeblähter

Lappen, ausgesetzt für immer der Marter

der Zeit, unser Gebet

und unser Lästerfluch.

Opfer und Henker zugleich,

Haß und Liebe, Wehklage und Gelächter,

unter der tauben Ewigkeit des Himmels. (I, S.9)

 

Zugegeben: ein auf den ersten Blick befremdlicher Text, für den Fremden und Zeitgenossen von heute zumal. Für den Spanier hingegen, insbesondere für den Zeitgenossen um 1960, dem Erscheinungsjahr dieses Gedichtzyklus, eher eine leidvolle Erfahrung. Schließlich erkennt er den Stier sofort als Beinamen seines Landes und in der ausgebreiteten Stierhaut die geographischen Konturen Spaniens. Und er weiß auch, dass Sepharad der hebräische Name für Spanien ist und vielleicht auch dass dieser Name seit 1492, dem Jahr der Vertreibung der Juden aus seinem Land, immer auch mit Gewalt, Unterdrückung und Intoleranz konnotiert wird. Vor allem aber weiß er aus eigenem Erleben, was es heißt, wenn der Stier selbstzerstörerisch seine Hörner gegen sich selber richtet. Zu hautnah berühren ihn die Schrecken aus Bürgerkrieg und Diktatur noch immer. Immer noch ist er „Opfer und Henker zugleich“ jenes dreisten Gestus der Eroberung.

Der Bruderkrieg und der Triumphalismus der Sieger hatten damals in steriler Polarisierung das Leben zum Erliegen gebracht – im ganzen Land. Eine ausweglose Situation, solange Hass, Hunger und Angst die Herzen lähmen. „Wenn du nur dich verrennst / in die Nacht deines Hasses, /  irres Pferd, Sepharad, / werden Peitsche und Schwert / stets über dich herrschen.“ (V, S.15)

Es ist eine schonungslose und schmerzhafte Diagnose über die Leiden des Landes, die diese 54 Gedichte des Zyklus, die sich wie ein episches Langgedicht lesen, dem damaligen Spanien stellen. Eine engagierte  Reflexion über die Zukunft des Landes, ein  Nachdenken freilich von der Peripherie des Landes, nicht von Madrid aus. Denn ohne die Anerkennung der kulturellen Vielfalt des Landes kein Heil: „Ja, begreif sie und mach auch du sie dein, / von den Ölbäumen aus, / die hohe, schlichte Wahrheit der eingefangenen Stimme des Windes: / ‚Verschieden sind die Sprachen und verschieden sind die Menschen, / und es werden viel Namen der einen Liebe dienen.’“ (XXX, S.77)

Und mit dieser Erkenntnis öffnet sich die Diagnose mehr und mehr zur erfolgversprechenden Therapie, zur Ermutigung, das neue Sepharad zu bauen: „Sorge, daß fest gebaut sind die Brücken des Gesprächs, / und trachte zu begreifen und zu  lieben / die verschiedenen Denkweisen und Sprachen deiner Kinder.“ (XLVI, S.121) Kein Selbstläufer freilich ist diese Therapie, sondern ein mutiges Wagnis der Freiheit für jeden Einzelnen – unter der Diktatur allemal:

„Und du, Mensch der jetzigen Tage / von Sepharad. / lebe nicht mehr den Tod / einer feigen Ruhe, / wag es, dich zu befreien / von deinem Übel. / Durchschiff die Schicksalslaunen des offenen Meeres / und laß erleuchten dich von den Strahlen des Blitzes. / Fern vom sicheren Hafen / wirst du / in Hoffnungswassern / abwaschen all das Blut / dieser zertrampelten / Stierhaut.“ (XLVII, S.123)

Mit solchem Mut zum widerständigen Wagnis öffnet sich endlich ein langer, dorniger, aber gangbarer Weg zu einem lebenswerten Spanien:

 

Nichts weiter wollen wir,

mit demütiger

Hoffnung,

nichts als

die ewige Fülle

der Rose,

erfüllte Ewigkeit

des Blühens.

 

 (...)

 

So haben wir sorgsam

die Flüsse und die Gebirge durchmustert,

die öde Hochebene und die Städte,

und haben jeden Traum

ihrer Menschen geträumt.

Wir sind mit dem Wind

in den Feldern gewesen, in den Wäldern,

in dem Rauschen der Blätter und der Brunnen,

und schreiben nun

auf diese ausgebreitete Haut,

auf ein verhohlenes und unsterbliches Herz

in Ruhe, Zug um Zug,

den Namen Sepharads. (LIV, S.137 f.)

 

Die Lektüre von Stierhaut ließ Figaro nachdenklich zurück. War die Botschaft dieses Gedichtszyklus nicht immer noch aktuell, 75 Jahre nach Endes des Bürgerkrieges und fast vier Jahrzehnte nach Ende der Diktatur? Doch könnte sie heute, am Vorabend des angekündigten Referendums über die Unabhängigkeit Kataloniens, noch Gehör finden? Figaro jedenfalls hat die Lektüre nicht bedauert, der Botschaft und der Kraft seiner Sprache wegen. 

Allerdings ist der Zugang zu dieser Botschaft schon materiell nicht ganz leicht. Mit etwas Glück gelingt es antiquarisch über das Internet. Kostspieliger wird es über die zweisprachige, 2007 im S. Fischer Verlag herausgegebene dreibändige Ausgabe seiner Werke in der kongenialen Übersetzung von Fritz Vogelgsang. Wer dazu greift, hält dann aber auch das lyrische Gesamtwerk eines Dichters in Händen, den Kenner zu den ganz Großen in Europa zählen.

  

- Joana und andere Gedichte -

Joan Margarit

Aus dem Katalanischen von Juana und Tobias Burghardt

Stuttgart: Edition Delta 2007, 175 S.

Die Begegnung mit diesem Buch verdankt Figaro der Empfehlung einer guten Freundin, die selbst den frühen Tod ihres Sohnes zu betrauern hatte. Trauerarbeit ist auch das Anliegen dieser Gedichtsammlung, in welcher der 1938 in Sanaüja in Katalonien geborene Dichter, Architekt und Universitätsprofessor Joan Margarit eigene traumatische Erschütterungen zur Sprache bringt: den Kindstod seiner Tochter Anna im 1. Lebensjahr und das Leben der kranken Tochter Joana, die am Rubinstein-Taybe-Syndrom litt und dreißigjährig an Krebs verstarb.

Der Band gliedert sich in zwei Teile. Der erste vereint unter dem Titel Joana neben einem Prolog 35 Gedichte, die in den letzten acht Monaten vor Joanas Tod im Angesicht ihres Todeskampfes geschrieben wurden. Und der zweite versammelt unter Andere Gedichte 41 Gedichte von den Anfängen bis heute, verbunden auch sie mit dem Kampf gegen das mit der Verlusterfahrung einhergehende Vergessen.

Selten hat ein Gedichtband Figaro so angerührt wie Joana, der Thematik wegen nicht allein, sondern auch dank seiner Sprache, die gleichermaßen direkt wie diskret ist und dabei ungemein intensiv. Ob es um diesen fragilen Körper geht, der „von Plünderung verwüstet“ dem Tod entgegeneilt („Plünderung“, S.41) oder um glückliche Momente wie das Lachen des kranken Kindes („U-Bahnstation Fontana“, S.25), und nicht zuletzt und immer wieder um das tiefe Erschrecken beim Versagen der eigenen Erinnerung („Vater und Tochter“, S.27), gleichviel. Dieses unablässige Ringen gegen den zweifachen Verlust des geliebten Menschen durch Tod und Vergessen wirkt unvermittelt und authentisch.

Ein herzergreifendes Requiem mithin für die geliebte Tochter, ganz ohne Rührseligkeit oder christliche Heilserwartung. Denn der Abgrund, der sie trennt, „ist der Abgrund des Nie wieder.“ („Vorwort“, S.10) Und so schreibt er gegen die würgende Erfahrung des Verlassenseins an, um so mit jedem Gedicht „das Gebiet des Todes (neu zu) markieren.“ („Vier Uhr in der Frühe“, S.21), obwohl der „Spiegel der Erinnerung (doch schon) so leer (ist)“ („Die Gegenwart und Forès III, S.73).

Mit Joana ist dem in Katalonien vielfach ausgezeichneten Dichter Joan Margarit ein ernstes und ehrliches Buch über die Verarbeitung der Todeserfahrung gelungen, das seine Leserin wie seinen Leser gestärkt zurücklässt. Das letzte Gedicht in dieser Sammlung sei daher hier als werbender Beleg wiedergegeben:

 

Auf dem Grund der Nacht

Die Luft gefriert.

Sogar die Nachtigall schweigt still.

Mit der Stirn an der Fensterscheibe

bitte ich meine beiden toten Töchter

mir zu verzeihen, weil ich

kaum mehr an sie denke.

Die Zeit hinterließ trockenen Lehm

auf der Wunde. Und trotz aller Liebe

beginnt das Vergessen.

Das Licht hat die Härte der Tropfen,

die bei Tauwetter aus der Zypresse fallen.

Ich lege ein neues Holzscheit, bewege die Asche,

und die Glut flammt wieder auf. Ich mache Kaffee.

Eure Mutter kommt aus dem Schlafzimmer

mit einem Lächeln: Wie gut es duftet.

Du bist heute morgen sehr früh aufgestanden

Bleibt noch der Dank an die Übersetzer Juana und Tobias Burghardt sowie an den kleinen Literaturverlag Edition Delta, die den in Katalonien vielbeachteten Dichter endlich auch einem deutschsprachigen Publikum auf einem solchen Niveau zugänglich machen.

* ARTÀ - Mallorca * ArtÀ - Mallorca * ArtÀ - Mallorca *

   

                             

 

 

El Fígaro del Norte